Herr Juncker

Operettenfinale

d'Lëtzebuerger Land du 09.09.2010

Heute loben wir Herrn Junckers unheimlich starken Abgang. Also sprach der Premier: „Wir haben Scheiße gebaut. Niemand in Europa hat sich derartige Blödsinnigkeiten erlaubt, nur wir allein. Es ist unbestreitbar, dass wir in den vergangenen 18 Monaten ständig gelogen haben.“ Dieses Bekenntnis ist authentisch. Es wurde wortgetreu im öffentlichen Rundfunk ausgestrahlt. Allerdings stammt es nicht von Herrn Juncker. Sondern von seinem Kollegen, dem ehemaligen ungarischen Premier Ferenc Gyurcsany. Diesem Mann blühte ein sonderbares Schicksal.

Eigentlich hatte Gyurcsany ja nur gesagt: „Liebe Wähler, jagt mich bitte mit Schimpf und Schande aus dem Amt, ich bin ein chronischer Betrüger, ich hab’s satt, das Spiel ödet mich an, ich mach nicht mehr mit, Punkt, Schluss.“ Dieses Verfahren der vorauseilenden Selbstanklage, das man wohl am besten mit „Ehrlichkeitstrick“ umschreibt, hat beim ungarischen Volk nicht verfangen. Gyurcsany musste noch über zweieinhalb Jahre im Amt bleiben. Womit bewiesen wäre, dass Ehrlichkeit sich für Politiker nicht auszahlt. Von ihnen erwartet der Wähler andere Qualitäten, bessere Tricks, überzeugendere Legenden. Die Gyurcsany-Methode ist jedenfalls gründlich gescheitert.

Umso dankbarer sind wir, dass unser Premier Juncker sich nicht bei Herrn Gyurcsany inspiriert. Er verabschiedet sich auf eine weitaus kreativere Art. Die zentrale Frage lautet: Wie kann ich als Politiker den kalkulierten Suizid planen und gleichzeitig alle glauben lassen, ich sei einem Meuchelmord zum Opfer gefallen? Blättern wir ein bisschen im kleinen Lehrbuch für das erfolgreiche politische Scheitern. Die besten unfreiwilligen Helfershelfer für das Beenden von Politikerkarrieren sind allemal die Gewerkschaften. Man muss also vor allem die Gewerkschaften bis zur Weißglut reizen. Hat der Politiker sein Politikerleben satt, kommt der Auftragskiller namens Gewerkschaft wie gerufen.

Der Politiker Juncker will offenbar den kommenden heißen Herbst nicht überleben. Er hat, für alle sichtbar und spürbar, mehr als genug von seinem undankbaren Job. Nun könnte er ganz einfach zugeben: „Tschüs, Volk, ich bin dann mal weg, sollen doch künftig andere den Saustall verwalten.“ Das wäre überhaupt nicht ehrenrührig, sondern nur der logische Schlussstrich unter eine Rolle, die nicht mehr funktioniert. Herr Juncker weiß genau, dass Politiker in Westeuropa nur mehr Hampelmänner sind, die von der Wirtschaft nach Belieben vorgeführt werden. Sie haben nichts mehr zu bestimmen, nichts mehr zu bestellen. Trotzdem verlangt ihr archaisches Selbstverständnis, dass sie in Krisenzeiten als King-Kong auftreten, lautstark und gnadenlos, wild entschlossen und rebellisch gestikulierend. Sie spielen Macht. Obwohl sie ohnmächtig sind wie nie zuvor.

Für Herrn Juncker kommt erschwerend hinzu, dass er ein hochdekorierter spiritus erectus Europas ist. Es wird auf dem Kontinent bald keine finstere Pfaffenclique mehr geben, die nicht ihrem neuen Freizeitsport „Wir dekorieren Juncker“ huldigt. Die Preisstifter werden immer katholischer, das heißt undurchsichtiger, die Orden und Medaillen immer flohmarkttauglicher. Aber bei Politikern zählt nicht die Güte, sondern nur die Menge. Mengenmäßig ist Herr Juncker vermutlich der gigantischste Preisträger Europas. So einer darf nicht banaler Weise seinen Hut nehmen. Er muss es vielmehr kunstvoll bewerkstelligen, dass ihm der Hut weggenommen wird. Das ist, im Gegensatz zum schlechten Gyurcsany-Trick, der ausgezeichnete Juncker-Trick.

Der Plan wird aufgehen, die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Das Szenario ist lückenlos: Herr Juncker kommt aus dem Urlaub und legt sich sofort mit den Gewerkschaften an. Er tritt ihnen nicht länger auf die Füße, er haut ihnen voll ins Genick. Er beschimpft sie nach allen Noten, er droht und giftet, er will den sozialen Frieden abschaffen, er kündigt eine volksfreie Politik hinter verschlossenen Türen an. Das macht er sehr gut, der gelernte Schauspieler. Jetzt nimmt die Operette ihren Lauf. Aus den Kulissen treten die Gewerkschaften zum letzten Gefecht. Es knallt, es raucht, das gesamte Bühnenbild wankt, Herr Juncker wird edel gemeuchelt, der Vorhang fällt.

So entstehen Märtyrer. Insofern ist der Juncker-Trick auch christlich-sozial betrachtet ein hervorragendes fake. Man wird den gestürzten König Europas noch Jahrzehnte lang bewundern. In seinen Memoiren wird er schildern, wie ihn die bösen Gewerkschaften ins Politikergrab beförderten. Der Brandstifter wird sich in die Ewigkeit retten als glorreicher Feuerwehrmann, dem man leider den glitzernden Paradehelm von Charakterkopf geschlagen hat. In den wenigen verbliebenen Kirchen und Kapellen seines Heimatlandes wird man ihn verehren wie einen echten Gipsheiligen. Die Gewerkschaften aber, die Meuchelmörder, fahren allesamt zur Hölle. Dort, so hört man aus teuflischen Kreisen, ist die Indexmanipulation ganz einfach tabu.

Guy Rewenig
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