Europawahlen 2014

5 vir 12

d'Lëtzebuerger Land du 25.10.2013

Nein, es geht hier nicht (mehr) um die Initiative 5 vir 12. Die Wahlen sind vorbei, das Ergebnis registriert, die Freudentränen getrocknet, die Wunden geleckt. Es geht um Frankreich, um die Frage, wo unser Nachbarland hinsteuert, politisch gesehen, fünf Monate vor den Kommunalwahlen, sieben Monate vor den nächsten Europawahlen. Vor anderthalb Jahren stand an dieser Stelle ein Beitrag mit dem Titel „Aufwachen!“. Es ging damals – nach der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl – darum, dass Marine Le Pen, Kandidatin des Front national, knapp 18 Prozent erreicht hatte. Aufgewacht ist anscheinend niemand, zumindest nicht die, an die der Weckruf gerichtet war. Die Rechtsradikalen (das Wort „rechtsextrem“ darf laut Aussagen der Parteivorsitzenden nicht mehr benutzt werden) sind weiterhin auf dem Vormarsch und das Establishment schaut zu.

Vor zwei Wochen hat die Wochenzeitschrift Le Nouvel Observateur die Ergebnisse einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ifop veröffentlicht, bei der es um die Wahlabsichten für die Europawahlen 2014 ging. Siehe da, die Liste des Front national hat noch einmal ein paar Punkte zugelegt; sie steht jetzt mit 24 Prozent auf Platz 1 der Wahlintentionen, noch vor der Sarkozy-Partei UMP (22 Prozent) und dem PS (19 Prozent) von François Hollande. Ein Aufschrei ging durchs Land und dicke Krokodilstränen wurden vergossen, eimerweise.

Wie konnte das passieren? Die Ursachen sind gleichzeitig tiefgreifend und vielschichtig. Frankreich geht es nicht gut, siehe die hohe Arbeitslosigkeit, die niedrige Kaufkraft der unteren Bevölkerungsschichten, die defizitäre Integrationspolitik, das Außenhandelsdefizit. Die Regierungskoalition wirkt uneins, manchmal sogar zerstritten. Die Sozialisten sind sich selbst nicht grün, von den Grünen ganz zu schweigen. Die klassische Rechte tut sich immer noch schwer mit dem Erbe Sarkozys. Die „guerre des chefs“ ist nur auf Eis gelegt, vorbei ist sie noch lange nicht. Einige Spitzenpolitiker

scheinen so sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, dass sie gar nicht mehr spüren (können), was in der Tiefe des Raumes vor sich geht. Eine explosive Mischung zwischen laisser-aller und laisser-faire hat sich breit gemacht. Derweil schreitet die Deindustrialisierung weiter fort und die Zukunftsängste vieler Bürgerinnen und Bürger nehmen zu. Dazu kommen noch der Ärger und der Frust über ein politisches System, das jegliche Bodenhaftung verloren zu haben scheint.

Die Europawahlen sind gerade in Frankreich gefährliche Wahlen, weil es darin ja „nur“ um Europa geht. Europa ist weit weg, Europa ist eine ziemlich abstrakte Größe, deshalb sind die Europawahlen ziemlich unwichtig, jedenfalls unwichtiger als die nächsten Kommunal- oder Landeswahlen. Der Durchschnittsfranzose hört nicht viel Gutes über und von Europa, sprich aus Brüssel. Dasselbe gilt fürs Europaparlament. Marine Le Pens Brandreden dagegen scheinen anzukommen, sei es bei älteren Semestern, bei Arbeitern und zunehmend auch bei jungen Menschen. Sie spricht das aus, was – oh Graus! – anscheinend viele denken: Einwanderung stopp, Grenzen dicht, raus aus dem Euro, raus aus der Union, wenn es nicht mehr anders geht. Sie ist dabei, die Parteienlandschaft umzupflügen und geht dabei methodisch vor: Zuerst der sich selbst überlassene ländliche Raum, dann die alten Industriereviere, die Grenzgebiete, die Vorstädte. „Ist sie zu stark, sind die anderen zu schwach“, frei nach dem Fisherman’s Friends-Prinzip.

Claude Gengler
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