In der Großen Nation

Die sich wundern

d'Lëtzebuerger Land du 11.12.2015

Das Cover einer französischen Zeitschrift zeigt ein verschwommenes Wesen hinter Gitterartigem. „Es kommt näher“, es muss ein Monster sein. Es heißt Marine. Niemand weiß, was nächsten Sonntag geschieht, „Nous sommes complètement dans le Bleu“, sagt ein TV-Moderator. Dann muss er lachen.

Schockstarre, Schockaktionismus. Der kriegerische Hyperaktivismus nach den Attentaten hat es doch nicht gebracht. Dass friedliebende Menschen sich in die Flagge einer immer noch oder zunehmend größenwahnsinnigen Nation wickeln und eine säbelklirrende, bluttriefende Hymne schmettern, über die der österreichische Schriftsteller Robert Menasse bemerkte, welch ein Shitstorm wohl losprasseln würde, würde man diese Texte als Korantexte präsentieren, auch nicht. Oder vielleicht hat es doch was gebracht, aber den Falschen?

Denn dass es die Falschen sind, ist ganz klar. Den Richtigen jedenfalls, die sich jetzt in Notfallsitzungen gegenüber sitzen. Wie sollen sie auch verstehen, was in dem Land, in dem sie leben, vor sich geht? Wer ist dieses exotische Wählerwesen, das niemand sich ausgewählt hat, jedenfalls nicht die, die das Sagen in den Fernsehstudios haben? All die Experten, die Politologinnen, die Rechtsextremismusforscher, die Philosophinnen. Sind es vielleicht doch nicht nur die fetten Frauen und bös schauenden Männer in Jogginghosen, die nicht rechtschreiben können, die Idioten, über die auf Facebook gewitzelt wird? Wer und wo ist dieses mysteriöse Frankreich, und warum? Am Rande, der quasi überall ist? Ist es vielleicht, Kameraschwenk, in diesem desolaten Gemeindesaal mit den Herren in den bemühten Anzügen, den Damen mit den betont munter wippenden Ohrringen? In den Industriebrachen, den verwaisten Revieren, in denen es früher etwas gab, Arbeit, Selbstachtung, Identität? Unaufgeregte Provinz, Wein, kleine Geschäfte statt nur noch ganz große, mit Katar. Oder gar keine mehr, fermé.

Es ist alles so rätselhaft, wer sind diese kleinen Menschen in diesen kleinen, Pardon, beschissenen Ortschaften, die partout nicht wollen, was doch das Beste für sie ist, da können sich der Doktor, der Sozialarbeiter oder der Therapeut, die alle so viel Geduld haben, noch so ins Zeug legen. Sie sind so störrisch, und so verstört, dauernd stören sie das schöne Weltbild, das globale, das friedliebende, weitblickende Menschen für sie entworfen haben. Sie schauen nicht weiter als auf ihren Kirchturm, ihre Kirche, in der es kalt ist und die Statuen verrotten; die Kirche, in die sie sowieso nicht gehen, bald wird sie verhökert werden. Sie gehen ins Bistro, wenn es noch eins gibt, und blasen Trübsal. Und schuld sind die anderen.

Und wer sind die kleinen Menschen in den großen Städten? Sie laufen verwirrt durch die Hypermarchés, drei Meter vom Stadtzentrum, das die Touristen durchschreiten. Es riecht nach Pisse und Kotze, es liegt Müll auf der Straße, in der die Straßenkinder zu Männern heranwachsen, die Falten auf der Stirn haben mit zwanzig. Sie machen keine Reisen, sie absolvieren keine Studienaufenthalte. Einer hat ein Angebot für Syrien bekommen, er nimmt seinen Cousin mit, und auch Jérôme, der die Schnauze voll hat, und jetzt für Allah ist. Soll er für den freundlichen Pinguin sein, der ihn aus treuherzigen Augen anschaut, ein bisschen mit den Flossen wackelt und „La Grande Nation“ sagt?

Frankreich hat jetzt ein Monument aux Morts mittendrin im Leben. Frankreich fährt großes Geschütz auf, die allergrößten Worte, es riecht nach Tod, nach unbekannten Soldaten. Der treuherzige Pinguin geht auf dem Bildschirm zwischen Speerspitzen auf und ab, mit seinem Gesicht aus der ernstesten Schublade. Überall stehen Jungs, die man mütterlich dem Bildschirm entreißen will, lauft so schnell ihr könnt! Wir brauchen keine Helden, Denkerinnen aber wären vielleicht ganz gut.

Und die Strategen entwerfen hektisch Schlachtpläne, gegen den Feind draußen, der mittendrin ist, und den anderen Feind, die Feindin, die noch mittendrinner ist. Sie schmieden verzweifelte Last-Minute-Allianzen, um den blauen Drachen zu besiegen, die derbe Herrscherin, die unbedarfte, abgefeimte Prinzessin. Aber wie sollen sie um einen Wähler werben, den sie gar nicht kennen, solche Leute kennt man nämlich nicht.

Vielleicht ist er gar hier, unter uns, der Kollege im Studio, die gestresste Pädagogin, der nette Kellner? Es ist so mühsam geworden, all diese Menschen, die überall nun mal sind; keiner weiß mehr warum sie was tun. Die einen bomben sich aus den Bannmeilen ins Zentrum der Städte, des Bewusstseins. Die andern, sie sind mindestens so unerforscht, eine grollende Mehrheit, füllen nur einen Wahlzettel aus. Das versetzt schon viele in Panik.

Michèle Thoma
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