Kino

Risse in der Fassade

d'Lëtzebuerger Land vom 09.08.2019

Nachdem die junge Dani (Florence Pugh) mehrere Schicksalsschläge in ihrer Familie durchleben musste und nun auch die Beziehung zu Christian (Jack Reynor) bröckelt, soll ein Auslandsaufenthalt mit den Freunden in einem entlegenen schwedischen Dorf, in dem gerade Feierlichkeiten zur Sommersonnenwende stattfinden, Dani wieder aufbauen. Was aber als Reise der Wiederfindung und Wieder-Annäherung gedacht ist, entpuppt sich nach und nach als Albtraum in dieser Dorfgemeinschaft, die an archaischen Riten und Praktiken festhält und Danis ohnehin schon labile Verfassung auf die Probe stellt...

Der Horrorfilm ist eines der langlebigsten Genres der Filmgeschichte und kennt zahlreiche Ausdifferenzierungen in Sub­gen­res – Midsommar ist wohl als Mystery-Horror anzusehen, der sich klar vom Splatter-Horror absetzt und, der sich womöglich The Wicker Man (1973) mit dem für das Genre so bedeutsamen Christopher Lee in der Hauptrolle in manchen Aspekten zum Vorbild nahm. Was die meisten Horrorfilme aber eint – vielleicht mehr noch als andere Filmgenres – das ist die Anpassung an den vorherrschenden Zeitgeist, der immer wieder latent mitgeführt wird. Ari Aster machte bereits 2018 auf sich aufmerksam mit dem Horrorfilm Hereditary. Die Kritik lobte seine Eigenwilligkeit und den Verzicht auf gängige Muster des Genres, da sei nur an den sogenannten Jump-Scare erinnert, den Aster gezielt vermied.

Der Zweifel an der familiäre Ordnung, das Individuum im Konflikt mit sich selbst und den äußeren Umständen, das den Selbstbezug zunehmend verliert – das sind Ideen, die Aster schon in Hereditary explorierte und nun fortführt. Hier nämlich steht am Anfang bereits das Ende. Die Familie ist zerstört und auch die Beziehung zwischen Dani und Christian ist eigentlich schon vorbei, noch bevor die Urlaubsreise überhaupt stattfindet. Hereditary war ein grausamer Abgesang auf die amerikanischen Familie, das ist auch in Midsommar deutlich erkennbar. Die amerikanische Gemeinschaft zerfällt in diesem Mikrokosmos der rückwärtsgewandten, heidnischen Kultur, die in der ländlichen Dorfgemeinschaft noch ausgelebt wird. Während ebendiese sich durch die Festlichkeiten stabilisiert, nimmt die Skepsis unter den ausländischen Besuchern zu, die sich unterein­ander nicht mehr vertrauen. Dieses Gefühl des beinahe paranoiden Misstrauens, des Sich-Auseinanderlebens mag als Spiegel für ein kollektives Unbewusstes stehen und gleichsam verdeckt die aktuellen politischen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten herausstellen. Das haben wir schon in Get Out (2017) erlebt.

Als Horrorfilm setzt Midsommar freilich auf die eindringliche Erzeugung von Affekten, dies indes nicht so sehr über Schockmomente oder gar Blutexzesse. Das Unbehagen generiert der Film dabei nicht durch eine überexplizit-drastische Inszenierung von Gewalt, es entsteht eher in deren überwiegenden Absenz. Die permanente Bedrohungssituation löst die Furcht vor Gefahren aus: Das was nicht gezeigt wird, eröffnet Deutungsräume des Grauens und aktiviert so jene menschlichen Urängste, die für das Genre immer schon konstitutiv waren. Die Angst baut sich vielmehr über eine atmosphärische Gestimmtheit auf, die zunehmend eine starke suggestive Sogwirkung entfaltet, der man sich als Zuschauer kaum entziehen kann.

Mit seiner Laufzeit von zwei Stunden und 27 Minuten lässt sich Aster dafür auch Zeit und entfernt sich deutlich vom klassischen Erzählkino, insofern er eine kausallogische Handlungskette zunehmend außer Kraft setzt. Deshalb ist Midsommar auch ein äußerst ästhetischer Film, der für einen Horrorfilm auffallend lichtdurchflutet ist und vor allem unterkühlte, aber besonders schöne Bilder zeigt, die im krassen Gegensatz stehen zu den gewaltvollen Praktiken. So befindet sich der Zuschauer in einem stetigen Spannungsverhältnis, das einerseits Anziehungskraft ausstrahlt und andererseits doch Abstoßung provoziert.

Der Einsatz der Filmmusik ist außergewöhnlich; öfters ist sie abwesend, nur um sich dann umso deutlicher aufzudrängen. Zuweilen lässt Aster die intra- und extradiegetischen Ebenen des Films sogar ineinandergreifen, was den irritierenden Effekt steigert. So gesehen macht Midsommar als äußerst performativ-sinnliches Filmerlebnis auf die Risse in der Fassade der Gesellschaft aufmerksam.

Marc Trappendreher
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