Ein Gespräch mit Filmkritiker Boyd van Hoeij

Filme verstehen

d'Lëtzebuerger Land du 16.08.2019

Boyd van Hoeij mag für luxemburgische Filminteressierte kein unbeschriebenes Blatt sein. Von 2008 bis 2012 war er Filmkritiker für Variety, seit 2012 für den Hollywood Reporter und daneben schreibt er noch für manch andere Filmzeitschriften. Sein Blick ist filmanalytisch-kritisch, wenngleich nicht akademisch verklausuliert, was seine Besprechungen einer Vielzahl von Lesern zugänglich machen sollte. Dabei wählt er eine lebendige Sprache, die jedoch nie ins Subjektivistische fällt und so immer eine Distanz wahrt.

Er hat Filmkritik und -analyse in mehreren Ländern vermittelt, in den USA, Litauen, Portugal oder Irland. Auf internationalen Filmfestspielen wie Berlin, Cannes und Sydney ist er regelmäßig präsent. Darüber hinaus ist er aber auch besonders mit der luxemburgischen Filmszene verbunden und trägt zur Diffusion der Filmkultur in Luxemburg bei. So ist der Niederländer mittlerweile fester Bestandteil des Luxembourg City Filmfestivals, zu dessen Anlass er gerne Masterclasses gibt. Für luxemburgische Medien schreibt er indes nicht, allerdings ist er mit der nationalen Filmproduktion ganz vertraut, immerhin lebt er seit rund zwanzig Jahren in Luxemburg1: „Der luxemburgische Film erlebt zur Zeit einen enormen Erfolg, da sei nur Superjhemp retörns erwähnt. Das beweist, dass es ein Publikum für qualitativ hochwertiges luxemburgisches Kino gibt.“ Er begrüßt die Vielfalt, die das nationale Kino bietet, dies sei Zeichen für eine gut funktionierende Filmproduktion: „Damit eine Filmkultur gesund bleibt, muss es verschiedene Filmgenres geben, verschiedene Filmautoren mit unterschiedlichen Visionen.“ Vor allem Govinda Van Maeles 2017 erschienener Erstlingsspielfilm Gutland sticht für Boyd van Hoeij hervor: „Sein Film funktioniert trotz oder gerade wegen seines nationalen Bezugs gut im Rahmen des Genrekinos und konnte auch ganz gut im Ausland zirkulieren, dort wurde er bei mehreren Festivals gezeigt. Man spürt in diesem Film förmlich die Stimme eines Autors.“

Siegfried Kracauer, sozusagen der Altvater der ideologiekritischen Filmkritik, hat sich bereits 1932 eingehend mit der Aufgabe des Filmkritikers beschäftigt2. Für Kracauer ist der „Filmkritiker von Rang [...] nur als Gesellschaftskritiker denkbar. Seine Mission ist: die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluss der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen.“ Dass ich Boyd van Hoeij mit Kracauer konfrontiere und diesen gleichsam als Autoritätsargument anführe, ist zugegebenermaßen etwas gemein; filmkritische Positionen der 1930-er-Jahre sind heute viel schwieriger denkbar, immerhin ist die Bedeutung von Film als Kunst einem stetigen Wandel unterlegen. Überhaupt hat sich das Publikum und auch die Filmkritik gewandelt. Dennoch findet Boyd van Hoeij einiges von Kracauers Ansätzen durchaus berechtigt und findet diese Feststellungen heute noch bestätigt: „Ich habe vor allem ein Problem mit den gegenwärtigen Disney-Trends; das ist keine Kunst, sondern pure Unterhaltung. Die dominierende Macht auf dem globalen Markt ist nach wie vor Hollywood, dessen Philosophie hat überhandgenommen. Es gibt immer mehr Filme aus deren Hause, insbesondere jetzt, wo Disney die Fox aufgekauft hat.“ Da bietet das europäische Kino ein Gegengewicht, das meint aber nicht, dass europäische Filme oder Arthouse-Filme generell die besseren Filme sind. Auch die Trennung zwischen den sogenannten „Qualitätsfilmen“, die im Utopia auf dem Limpertsberg gezeigt werden und dem Popcorn-Kino, das seinen Platz auf dem Kirchberg hat, ist problematisch, weil sie die Rezeption bereits a priori beeinflusst. „Ein Ingmar Bergman wurde nicht unbedingt als Arthouse rezipiert, die Filme waren unglaublich populär zu seiner Zeit. Da gibt es keine Trennschärfen.“

Überhaupt ist die Trennschärfe in Bezug auf den Begriff des „Filmkritikers“ heute alles andere als gegeben, so unglaublich populär ist er. „Eine gute Kritik ist unabhängig von Medium oder Plattform.“ So sieht Boyd van Hoeij auch kein Problem in der sich längst etablierten Popularität der zahlreichen YouTubern, Bloggern, die das Internet und die neuen Medien nutzen, um über Filme zu sprechen. „Die gedruckte Filmkritik ist weder überholt, noch tot. Diese Selbstpublikationen im Netz sind an und für sich begrüßenswert, weil sie dem Film zur Verbreitung verhelfen. YouTube kennt keine Barrieren, das Publikum entscheidet über die Popularität der Inhalte, aber in den wenigsten Fällen ist das eine tatsächlich professionelle Filmkritik. Als professioneller Filmkritiker musst du klarmachen, wie du einen Film erlebt hast und wie du ihn in einen Kontext setzt, damit die Leute, die deine Kritik nachher lesen, dahinter erkennen können, ob ihnen das gefallen könnte oder nicht. Es gibt viele Fans, aber wenig Kritiker.“ Ein guter Filmkritiker zeichnet sich also aus durch den formierten Blick. Die Analyse und Kontextualisierung sind deshalb für Boyd van Hoeij daher die Differenzkriterien schlechthin. „Ein Kritiker muss die Filmanalyse beherrschen: Wie ist ein Film aufgebaut, wie benutzt er die Montage, Musik, Kostüme? Aus einem Horrorfilm kann man viel über unsere Gesellschaft ablesen, aber sieht ein YouTuber das? Hat er Lust, das zu beleuchten? Die Überlegungen gehen da nicht weit...“

Und da sind wir an einem spannenden Punkt angelangt. Es scheint mir ein sehr verbreitetes Wahrnehmungsproblem zu geben: Wer lobt, wirkt in seinem Denken affirmativ und deshalb weniger kritisch und umgekehrt. Neue Medien setzen auf Vertrautheit und heben die kritische Distanz zwischen der Person des Kritikers und des Kunstgegenstandes auf. So fällen viele dieser Autopublizisten ihre Urteile basierend auf deren Cinéphilie, treffen viel eher Einordnungen, als dass sie sich tatsächlich kritisch mit dem Kunstobjekt auseinandersetzen. Daraus resultiert indes aber auch eine Verzerrung in der Wahrnehmung der professionellen Filmkritik. „Das größte Vorurteil oder Missverständnis, das in den Köpfen vieler Leute herrscht, ist der Umstand, dass das Publikum glaubt, professionelle Filmkritiker würden Filme nicht lieben“, so Boyd van Hoeij.

Wer verstehen will, wie ein Film Sinn stiftet, wie er seine Mitteilungen macht, der muss den Film als komplexes Zeichensystem begreifen; dafür braucht es freilich einen Zugang zur Filmbildung. „Ich bin kein Experte des Luxemburger Schulsystems, aber ich höre öfters, dass Leute sich in Luxemburg beklagen – meine Masterclasses, die ich in Luxemburg halte, belegen das – sie hätten die analytische Filmlektüre nirgends gelernt. Dabei ist das Interesse da.“ Das dürfte nicht weiter verwundern, die institutionalisierte Filmbildung in Schulen – wenn es sie denn überhaupt gibt – steht weithin unter Legitimationsdruck. „Ich finde das, ehrlich gesagt, schockierend. Wir leben in einer Welt der bewegten Bilder, der fake news, der Manipulation durch Bilder, ob im positiven oder negativen Sinne. Das braucht eine pädagogische Heranführung und auch eine Begleitung. Da hat der Staat noch viel Arbeit vor sich.“ Dabei merkt man immer wieder, dass besonders junge Menschen viel Vorwissen angesammelt haben, auf dem man aufbauen könnte. Sie brauchen ein Fachvokabular, „wenn erstmal die Schienen gelegt wurden, dann fährt der Zug von selbst“, meint der Filmkritiker. Die Einschätzung, dass man Filmbildung auch hierzulande gerne mit Filmpraxis auf der Produktionsseite gleichsetzt und somit zu eng denkt, ja deshalb sogar missversteht, unterstreicht auch van Hoeij: „Zuerst muss eine theoretische Basis da sein, dann erst die Praxis.“ So sei etwa die Initiative der Cinémathèque municipale mit dem Projekt der Université populaire du cinéma3 sehr begrüßenswert, allerdings besteht das Angebot nur in französischer Sprache, klagt er, sein Feedback bei den Masterclasses zeige hingegen, dass sich die luxemburgische Gemeinschaft ein mehrsprachiges Angebot wünsche, das erst geschaffen werden müsse.

Abschließend wollte ich von Boyd van Hoeij wissen, was er sich denn wünscht, gegenwärtig im Kino zu sehen. Ganz schlicht meint er: „Ich will gute Filme sehen, unabhängig von den Genres. Aber braucht es 15 Superheldenfilme pro Jahr? Disney tut es dem Marvel-Studio gleich: Dumbo, Aladdin, Lion King und noch weitere... Braucht es dieses Überangebot an gleichen Filmen? Ich sehe darin keinen Mehrwert.“

1 Boyd van Hoeij ist Vorsitzender der Auswahlkommission des Film Fund; weitere Mitglieder: Guy Daleiden, Gabriele Röthemeyer, Karin Schockweiler und Meinolf Zurhorst

2 Vgl. Kracauer, Siegfried: Über die Aufgabe des Filmkritikers. [1932] In: Ders.: Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film. Hrsg. von Karsten Witte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 9–11.

3 https://www.vdl.lu/fr/visiter/art-et-culture/cinema/cinematheque/universite-populaire-du-cinema/saison-2018-2019-de-lunipopcine

Marc Trappendreher
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