In einem schwierigen Umfeld setzt der Stahlstandort Luxemburg auf den technologischen Vorsprung. Gespräch mit Country-Manager Christian Zeyen

Realismus

d'Lëtzebuerger Land vom 09.09.2011

D’Lëtzebuerger Land: Herr Zeyen, Anfang der Achtziger trumpfte die Arbed dick auf, um sich für die damals notwendig gewordenen öffentlichen Zuschüsse zu rechtfertigen: Mit 22 290 Beschäftigten stemme sie über 17 Prozent der Wirtschaftsleistung, beschäftige über 16 Prozent der Arbeitnehmer, zahle 20 Prozent der nationalen Gehältermasse. 

Christian Zeyen: Wenn Sie einen geschichtlichen Rückblick machen, müssen Sie berücksichtigen, dass vor 100 Jahren mit dem Stahlwesen die Industrialisierung nach Luxemburg kam. Im Süden ging es vom Feld in die Stahlwerke und für die Landwirtschaft im Ösling haben wir Phosphate hergestellt, mit denen der Ertrag gesteigert wurde. Die Kartoffeln wurden dicker – der Wohlstand kam mit dem Stahlwesen nach Luxemburg, nicht durch die Banken, wie heute viele meinen. Die Stahlindustrie stellte damals einen Großteil des Bruttoinlandsproduktes dar, weil es kaum eine andere Industrie und vor allem die landwirtschaftliche Produktion gab. Das hat sich mit der Zeit gewandelt. 

Fast 80 Prozent der Tonnage im Hafen von Mertert wurden für die Arbed umgeschlagen, rechnete man in den Achtzigern vor, um zu belegen, dass nicht nur der Süden des Landes wirtschaftlich vom Stahlwesen abhängig sei, sondern die Luxemburger Gesellschaft insgesamt. Zwar ist Arcelor Mittal auch 2011 noch der größte private Arbeitgeber im Land. Doch mittlerweile schreibt sich die Finanzbranche den Löwenanteil der Wirtschaftsleistung und der Steuereinnahmen zu, und im Hafen von Mertert könnte eine Futtermittelfabrik gebaut werden, weil deutlich weniger Schrott für Arcelor Mittal umgeschlagen wird. Wie bewertet der Konzern heutzutage seine Stellung in der Luxemburger Gesellschaft?

Heute ist Arcelor Mittal der einzige Stahlproduzent in Luxemburg – abgesehen vom Edelstahlproduzenten Aperam, der aus Arcelor Mittal hervor gegangen ist. Mit 5 359 Arbeitnehmern ist der Konzern im ersten Quartal 2011 immer noch der größte Arbeitgeber, wir stemmen damit knapp drei Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung. Dennoch sind wir eine der wenigen Industrien in Luxemburg, die noch etwas Handfestes herstellen, und unsere Produkte, wie die Jumboträger aus Differdingen oder die Spundwände und Träger aus Belval, sind nach wie vor Weltspitze. Ich glaube, es ist wichtig, dass es das neben der Bankenbranche, deren Ausbau nach der Stahlkrise als Diversifizierungsmaßnahme vorangetrieben wurde, noch industrielle Betriebe in Luxemburg gibt. 

Als die oben genannte Argumentation aufgesetzt wurde, war die Stahlbranche in der Krise. Von der Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre hat sich manches Stahl- oder Walzwerk noch nicht erholt, darunter auch Rodingen und Schifflingen. Ein Teil der Beschäftigten, deren Arbeitsplätze abgebaut werden, werden von der Cellule de reclassement aufgenommen. Ein Kriseninstrument, das wie die Tripartite ursprünglich aus der damaligen Zeit stammt. Sind diese Instrumente mittlerweile zu Standortfaktoren geworden? 

Rodingen und Schifflingen stellen eher auf den Massenmarkt zugeschnittene Produkte her, hauptsächlich Betoneisen. Wenn man solch weniger spezialisierte Ware produziert, muss man mit exzellenter Produktivität und Qualität auftrumpfen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Wenn wir diesen Werken eine Chance geben wollen, müssen weitere Anstrengungen in Sachen Produktivität gemacht werden. Die Konkurrenz sitzt gleich nebenan, und wir müssen die gleichen Produktivitätsraten erreichen wie sie. Bei Restrukturierungen bleibt das so genannte Luxemburger Modell ein wichtiges Instrument. Während all dieser Krisen, sei es in den Siebzigern, Achtzigern oder Neunzigern wurde niemand arbeitslos. Die Arbeitnehmer wurden „reklassiert“, neu geschult, um ihnen die Möglichkeit zu geben, weiterzuarbeiten. Wer weiterarbeitet, verliert weder sein Gehalt, noch sitzt er auf der Straße, was vergleichsweise niedrige Arbeitslosenraten zur Folge hatte. Wären sie höher, würden sie auch einem Land wie Luxemburg schaden.  

Ein weiteres Instrument zum sozial verträglichen Stellenabbau ist die Vorruhstandsregelung, auf die auch noch im Rahmen von Lux2011 zurückgegriffen wurde, dem jüngsten mit den Gewerkschaften verhandelten Zukunfts- und Entwicklungsplan für den Luxemburger Stahlstandort. Andererseits fordern die Arbeitgeberverbände und Arcelor Mittal als größter Arbeitgeber die Abschaffung der Vorruhestandsregelung aus gesamtwirtschaftlichen Gründen. 

Ein schwieriges Thema. Wir haben Anlagen, die immer leistungsfähiger werden, weshalb vermehrt Arbeiter in den vorzeitigen Ruhestand gehen. Auf der anderen Seite fehlt uns dort qualifiziertes Personal, um die hochtechnologischen Anlagen zu bedienen und zu führen. Es fehlt  dann an Technikern und Ingenieuren, um das zu bewerkstelligen. 

Ein Luxemburg-spezifisches Problem? 

Nein, das ist ein europäisches Problem, und sogar ein nordamerikanisches. Die einzigen Länder, die davon ausgenommen sind, sind China und Indien, die jährlich, jedes einzeln betrachtet, mehr Ingenieure ausbilden als Europa und die USA zusammen. 

Zurück zu Rodingen und Schifflingen, die, wie Sie sagen, Baustahl produzieren, der von der Konkurrenz nebenan günstiger hergestellt wird. Während der Achtziger wurde viel auf die Kommission in Brüssel geschimpft, als die versuchte, mit Quoten die Überkapazitäten zu bekämpfen. Da kann man sich fragen, ob es hier nicht ein seit Jahren andauerndes Überkapazitätsproblem gibt, das angesichts der moderaten Bauaktivität in Europa nun lediglich offen zu Tage tritt.

Man muss differenzieren. Die Jumboträger aus Differdingen und die Spundwände werden ja auch auf dem Bau eingesetzt. Aber wenn die Regierungen überall auf Sparflamme kochen und es weniger Ausschreibungen für staatliche Infrastrukturen gibt, gehen die Aufträge zurück. Der Markt ist schwierig.

Bereits vor Monaten hatte Arcelor Mittal angekündigt andere, speziellere Produkte, beispielsweise solche, die extrem niedrigen Temperaturen standhalten, in Rodingen und Schifflingen herzustellen. Wie ist es mit diesen Projekten?

Auch wenn beim Betoneisen solches dabei ist, das Niedrigtemperaturen aushält oder mit speziellen Verschraubungen verwendet werden kann: Betoneisen bleibt ein wenig technologisches Produkt. Wenn wir mit unserer Produktion in einem Hochlohnland auch in Krisenzeiten verkaufen und auf dem europäischen Markt bestehen wollen, müssen wir höhere Produktivitätsraten erreichen und zu niedrigen Preisen herstellen. Der Kunde kauft dort, wo er die Ware zum besten Preis bekommt.

Das klingt nicht sehr optimistisch.

Das ist realistisch. 

In den Werken in Düdelingen und Bissen wurden vergangenes Jahr mit großem Stolz über die erfolgreiche Produktpalette runde Geburtstage gefeiert. Das sind aber reine Verarbeitungsbetriebe; ohne Stahlwerk. Wenn man berücksichtigt, wo der Konzern in den kommenden Jahren investieren will, stehen die Entwicklungsländer an vorderster Stelle, Europa ist kaum vertreten. Ist das die Zukunft? Verarbeitungsbetriebe hier, Stahlwerke dort?

Sicher will man vor allem da produzieren, wo auch verbraucht wird. Das ist in China, Indien, aber auch in Brasilien und Südafrika. Man muss aber bedenken, dass wir einen gewissen technologischen Vorsprung haben. Das Differdinger Werk ist konzernweit einzigartig und nirgendwo sonst kann wie in Belval die gesamte Palette an Spundwänden gewalzt werden. Diesen Vorsprung müssen wir durch Forschung aufrechterhalten. Indem wir höhere Festigkeiten erzielen, Produkte entwickeln, die den Kunden erlauben weniger, dafür aber belastbareren Stahl einzusetzen. 

Solche Forschungsergebnisse will sich doch der gesamte Konzern zunutze machen, nicht nur die hiesigen Werke. Und das verhindert nicht, dass die Konzernspitze irgendwann aus Kostengründen entscheidet, diese Produktionsreihen ins Ausland zu verlegen?

Konzerninterne Verlagerungen verhindert das in der Tat nicht. Aber man muss bedenken: Diese Werke stehen jetzt hier. Will man sie woanders aufbauen, muss man erst einmal ganz tief in die Tasche greifen.

Nächstes Jahr sollen neue, restriktivere Kohlendioxid-Quotenregelungen von der EU eingeführt werden. In der Vergangenheit konnte der Konzern sogar überschüssige Quoten verkaufen. Der Impakt war also gering. Wie sieht es in Zukunft aus?

Kohlendioxid ist ein Problem. Wenn die EU-Kommission durchsetzt, was sie vorhat, werden die Erzeugungskosten drastisch steigen; wir halten eine Preissteigerung von 20 Prozent für möglich. Damit wird sie der Stahlbranche und anderen Industrien Ursache geben, weniger in Europa zu produzieren. 

Das gilt aber für alle europäischen Hersteller. 

Ja. Aber in Luxemburg, wo wir Elektrostahlwerke betreiben, wird die Lage wegen der indirekten Kosten sehr schwierig. Den Strom beziehen wir aus dem Ausland, müssen dafür eine CO2-Taxe entrichten. Die können wir nicht an die Kunden weitergeben. Innerhalb Europas ginge das vielleicht noch, aber außerhalb Europas nicht. Wir sind nicht gegen eine Reduzierung der CO2 Emissionen. Das heutige System führt aber dazu, dass die europäische Industrie weniger konkurenzfähig wird, ohne jedoch das Klima positiv zu beeinflussen, da Klima eine weltweite Angelegenheit ist.

Womit wir wieder bei der Frage nach dem Fortbestand der Stahlwerke wären. Welche Lösungsansätze sehen Sie noch? Die neue Quotenregelung soll am 1. Januar 2012 in Kraft treten. 

Ein Einlenken der EU-Kommission. Wir arbeiten in diesem Punkt mit der Luxemburger Regierung zusammen und auch in den anderen Ländern, in denen wir vertreten sind, versuchen wir, jeweils unseren Standpunkt zu erklären. Der Verteilung der Verschmutzungsrechte müssen realistische Berechnungen zugrunde gelegt werden. Das ist momentan nicht der Fall. Die Kommission will mit Benchmarks arbeiten, die auf Basis der jeweils zehn besten Hersteller pro Verfahren aufgestellt werden. Aber sogar wer den Benchmark erreicht, bekommt keine 100 Prozent freien Rechte. 

Michèle Sinner
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