Theater

Zwischen Punk und Askese

Thomas Halle, Mein Arm
Foto: Bohumil Kostohryz/ILL
d'Lëtzebuerger Land vom 31.03.2017

Eines Tages beschließt ein zehnjähriger Junge, seinen linken Arm über den Kopf zu heben und nie wieder herunterzunehmen. Wir sind in den spießbürgerlichen Siebzigerjahren in Ostfriesland, in einer typisch nachkriegsdeutschen Familie, Vater Handelsvertreter, Mutter Hausfrau, Bruder Raufbold. Eigentlich hat sich der pubertierende Junge nichts Besonderes dabei gedacht, sein Beschluss ist vor allem eine Mutprobe, die er sich selbst stellt, ein Versuch, nur mit seiner Willenskraft seinen Körper zu beherrschen. Doch sehr schnell wird seine Geste von seinem Umfeld als Provokation angesehen, allen voran von seinem Bruder, der darin einen Versuch des Jüngeren sieht, alle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Dann von seinen Eltern, die ihn sofort zu einer Kinderpsychologin bringen, später in eine psychiatrische Anstalt einweisen lassen. „Ich wurde zum Brennpunkt der Aggressionen“, stellt er schon mit elf oder zwölf fest, „ich hatte ein Gefühl der Macht, der Selbstbestimmtheit“. Als die Mutter plötzlich stirbt und der Vater ihren ungezogenen Söhnen die Schuld daran gibt, zieht der Junge mit seinem Bruder nach Berlin der 80-er: besetzte Häuser, Drogen, Punk, absolute Freiheit scheinen ihn vom Provinzmief und dessen Erwartungen zu erlösen – bis die Kunstwelt neue Erwartungen an ihn stellt, an denen er ersticken wird.

Mein Arm war das erste Stück des britischen Autors Tim Crouch, das er Anfang der 2000-er Jahre schrieb, besonders aus der Frustration heraus, die das realistische, psychologisierende Theater in ihm hervorrief: Crouch spielt mit Metaphern und Bildern, wagt sich weit ins Absurde hinein. Der Erzähler seines Monodramas ist nüchtern und desillusioniert, er gibt nie den Eindruck, außergewöhnlich sein zu wollen. Das scheint ihm alles bloß so passiert zu sein. Sein acte gratuit sollte keine Provokation sein, nur ein Versuch eines Kindes, sich zu übertreffen. Dadurch wird er der Inbegriff des „Anderen“, wird selbst zum Objekt. Und doch geht es ihm nie so gut als am Ende seines Lebens, als eine Künstlerin ihn monatelang Modell sitzen lässt – und ihn ansieht. Diesen Blick, diese Aufmerksamkeit empfindet er als „Wiedergeburt“.

Die junge luxemburgische Regisseurin Linda Bonvini, die vor kurzem erst Séisme im Centaure inszeniert hat, war fasziniert von Crouchs Stück und brachte es Mitte März in der Escher Kulturfabrik auf die Bühne (weitere Vorstellungen im Mai in Niederanven). Bei dieser Inszenierung wagt sie sich ans Objekttheater heran, ein Genre, das sie während ihrer Zeit in den Rotondes kennengelernt und in einer Masterclass mit der belgischen Künstlerin Agnès Limbos weiterentwickelt hat. Die Objekte hier sind eine Zigarettenschachtel für den Vater, eine Parfümflasche für die Mutter, ein Boxhandschuh für den Bruder und eine kleine Lurchfigur für den Jungen. Ansonsten ist die von Christian Klein gestaltete Ausstattung spärlich: eine gelbe Leselampe für die Psychologin, ein paar Büroleuchten für die Stimmung, ein Tisch, ein paar Bilder und Fotos, Spraydosen...

Der Erfolg des Stückes beruht vor allem auf der Leistung des Hauptdarstellers Thomas Halle,
33 Jahre, Ausbildung an der Hochschule für Schauspiel Ernst Busch in Berlin, von 2011 bis 2015 am Ensemble des Badischen Theaters Karlsruhe. 2015 wurde er von Theater Heute für die Rolle des Edward Snowden in Ich bereue nichts (Regie: Jan-Christoph Gockel) als „bester Schauspieler des Jahres“ nominiert; Günther-Rühle-Preis für die gleiche Rolle. Da steht er, etwas scheu, im schwarzen Saal des Kinosch der Kulturfabrik, der zum Theater umfunktioniert wurde. „Das bin ich!“ verkündet er, und fängt an, sein Leben zu erzählen. Doch trotz seiner alleinigen Präsenz auf der Bühne, trotz der Requisiten, mit denen er hantiert, spielt Halle nie Puppentheater. Trotz seines in der Geschichte erhobenen Armes, mimt er das nie auf der Bühne, seine Geschichte lebt nur durch seine Erzählkraft. Thomas Halle stemmt die ganze Stunde des Theaterstückes alleine, ist mal die überforderte Mutter, dann der aggressive Bruder oder der scheue Junge. Sein Gesicht weist ein ganzes Lexikon von Mimiken auf, deren Ausdruckskraft ohne Exzess auskommt. Nie macht er zu viel Aufhebens, auch wenn er durchaus als koksender Punkbruder auch schon mal lauter werden kann.

Mit Mein Arm zeigt das Escher Künstlerkollektiv Independent Littles Lies, dass es definitiv erwachsen ist und seine Nische gefunden hat, sich immer wieder erneuert. Haben die ersten Generationen der ILL-Theaterleute begeistert Klassiker unter stundenlangem hysterischem Geschrei begraben, macht Linda Bonvini genau das Gegenteil und geht mit Bescheidenheit neue Genres und Theaterwelten an. Man sollte sie nicht aus den Augen verlieren.

Mein Arm von Tim Crouch; Übersetzung; Bernd Samland; Regie: Linda Bonvini; Bühne und Kostüme: Christian Klein; Video: Catherine Dauphin; Produktionsleitung: Jill Christophe; mit: Thomas Halle, ist eine Produktion von Independent Little Lies. Weitere Vorstellungen am 30 und 31. Mai im Kulturhaus Niederanven;
www.ill.lu/mein_arm.html

josée hansen
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