Kino

Bilder der Zeit

d'Lëtzebuerger Land vom 23.08.2019

Die Ein-Kind-Politik zur Kontrolle des Bevölkerungswachstums in der Volksrepublik China, die erst 2015 beendet wurde, bildet die Ausgangssituation des Films So Long My Son (Di jiu tian chang), der vordergründig um die Frage kreist, wie ein staatliches Programm mit einer individuellen Lebenslage zu vereinen ist. Was tun, wenn der Staat einem die Familienplanung vorschreibt? So wird die Geschichte zweier Familien in China erzählt, die während der Zeit des kulturellen Aufbruchs um 1980 mit den gesellschaftlichen Umbrüchen konfrontiert sind und durch ein tragisches Schicksal über mehrere Jahrzehnte miteinander verbunden bleiben.

In etwa 180 Minuten unternimmt der chinesische Regisseur Wang Xiaoshuai, der gerne der sechsten Generation und dem „urbanen Realismus“ zugeordnet wird1, den Versuch, ein eindrucksvolles Fresko dieser Aufbruchszeit zu zeichnen, indem er zwei Familien in den Mittelpunkt rückt und diese als tragische Paradigmen für die chinesische Gesellschaft der Achtziger-Jahre ins Feld führt. Etwa zu Beginn zeigt ein Kameraschwenk ein an die Seite gestelltes Fahrrad – damit spielt Wang Xiaoshuai nicht nur auf seinen eigenen Film Beijing Bicycle (2001) an, sondern ruft ebenso Vittorio DeSicas Ladri di Biciclette ins Gedächtnis, der Film, der für den italienischen Neorealismus, wie auch für den Aufbruch in die filmische Moderne, so bedeutend war.

Damit kündigt sich gleichsam ein Programm an: In den filmischen „Helden“ erkennen wir Alltagsmenschen, dem Leben und den Erfahrungen der einfachen Menschen gilt der Fokus; sie sollen stellvertretend für das gesellschaftsübergreifende Kollektiv stehen. Wang Xiaoshuai folgt dabei keiner chronologischen Erzählweise, sondern wechselt zwischen mehreren Zeitebenen hin und her. Diese Sprünge zwischen den Erzählebenen von Vergangenheit und Gegenwart mögen – zumindest einem westlichen Zuschauer – mehr Konzentration abverlangen und auch hält er ganz bewusst Informationen zurück, deren Aufarbeitung erst nach und nach für mehr Transparenz sorgt.

Xiaoshuai Film nimmt mit diskreter Sensibilität die Ängste der Menschen auf und zeichnet ein Bild der Zeit, das von wirtschaftlicher Konjunktur und sozialen Widersprüchen gekennzeichnet ist. Die Unsicherheit familiärer, wirtschaftlicher und politischer Natur bietet die Basis für das Geschehen, wodurch die mitunter perverse Dimensionen dieser politischen Maßnahmen ausgestellt werden. So machen etwa die Eltern gute Miene zum bösen Spiel: Sie erhalten eine Auszeichnung für ihre besonderen Verdienste bezüglich der optimalen Familienplanung, weil sie sich einer Zwangsabtreibung fügen mussten.

Zu Wang Xiaoshuais Verdiensten zählt auch, dass er keine publikumsträchtige Affirmation an das Mainstream-Kino macht und so nie zu melodramatisch wird. Für sein Kino ist gerade der Umstand so bezeichnend, dass seine Figuren ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft angesichts der strengen Gesellschaftsnormen beinahe verloren haben und ihr Schicksal ohne Auflehnung akzeptieren. Wang Xiaoshuai verzichtet folglich weitestgehend auf standardisierte melodramatische Muster und operiert stattdessen mit äußerster Sorgfalt und Sensibilität, die sich besonders in der beherrschten Formsprache ausdrücken: Mit respektvoller Distanz beobachtet seine Kamera die privaten Sphären der Familien.

Die Starre des Systems findet ihre Entsprechung in den unbewegten und streng kardierten Einstellungen, die dem Geschehen eine Dynamik und Vitalität entzieht. In die Nah- oder Großaufnahmen wechselt die Kamera vor allem dann, wenn sie den Zuschauer im Gesicht der Schauspieler lesen lassen will. Das ist unsägliches Leid, das diese Menschen ertragen müssen, aber all ihrer Gebrochenheit zum Trotz, bewahren sie ihre Würde – und daraus zieht der Film seine Wirksamkeit. Diese Eindringlichkeit erreicht er insbesondere durch seine Darsteller (vor allem: Wang Jingchun und Yong Mei, die bei der diesjährigen Berlinale mit dem Schauspielpreis ausgezeichnet wurden), die es verstehen, in kleinen Gesten Gefühle zu transportieren, mit feiner Mimik Freude, Trauer, Schmerz auszudrücken. So reich an Emotionen diese sehr minimalistischen Ausdrucksweisen sind, so kunstvoll sind die Pausen, in denen die Darsteller nach Worten suchen, um Gefühle auszudrücken.

Die respektvolle Haltung und die menschenwürdige Darbietung machen aus So Long My Son einen sensiblen und eindringlichen Film, der als engagierter Beitrag zum sozialkritischen chinesischen Kino verstanden werden will.

1 Die chinesische Filmgeschichtsschreibung vollzieht sich hauptsächlich in der Kategorisierung von „Generationen von Filmemachern“ Vgl. dazu näher: Kramer, Stefan (1997): Geschichte des chinesischen Films. Stuttgart: J.B. Metzler. Hier insbesondere das Kapitel „Urbaner Realismus und die Sechste Generation“, S. 221-230.

Marc Trappendreher
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