Mobilität der Grenzpendler

Modell Luxemburg

d'Lëtzebuerger Land vom 26.10.2012

Haben Sie Ihren Wohnsitz und Ihren Arbeitsort in Luxemburg? Und kennen Sie einen Grenzpendler, der jeden Tag hierher zur Arbeit kommt? Falls ja, dann fragen Sie ihn doch einmal nach seinem Arbeitsweg und vergleichen Sie seine Situation mit der Ihren. Sollten Sie danach zu dem Schluss kommen, dass Ihre Lage deutlich beneidenswerter sei als seine, sind Sie auf den typischen Unterschied zwischen Travailleurs résidants und Travailleurs frontaliers in Luxemburg gestoßen.
Den beschreibt die Abteilung für Geografie und Raumplanung am Belvaler Forschungszentrum Ceps-Instead in einer diese Woche veröffentlichten Arbeit über Die Mobilität der in Luxemburg beschäftigten Grenzpendler1. Darin liest man zum Beispiel, dass von den 146 000 Frontaliers, die Anfang 2010 ihren Arbeitsplatz in Luxemburg hatten, 14 Prozent jeden Tag mit dem öffentlichen Transport dorthin gelangten. Das ist eine Angabe, die den zuständigen Minister freuen wird. Entspricht sie doch einer Zunahme der Nutzung von Bus und Bahn im grenzüberschreitenden Berufsverkehr um fünf Prozentpunkte innerhalb von nur drei Jahren.
Was die Geografen vom Ceps über die Grenzgänger-Mobilität zu sagen haben, erschöpft sich jedoch bei weitem nicht nur im so genannten Modal split der Verkehrsmittelnutzung. Vielmehr liefern sie viele Antworten zur Frage, was es denn heißt, Grenzpendler zu sein. Der soziale Alltag, der dabei aufscheint, hat viel mit Mobilität zu tun.
Schon deshalb, weil Grenzpendler nach Luxemburg nicht nur wesentlich längere Wege und Fahrzeiten zur Arbeit in Kauf nehmen als ihre im Großherzogtum lebenden Kollegen. Verglichen mit dem Durchschnitt ihrer Landsleute sind die Unterschiede ebenfalls beträchtlich. Im Schnitt (Stand 2010) wohnt jeder Frontalier 44 Kilometer entfernt von seinem Arbeitsort im Großherzogtum. Für in Luxemburg Ansässige liegt die mittlere Distanz nur bei 14 Kilometern; in Frankreich jedoch beträgt sie für die gesamte berufstätige Bevölkerung nur einen Kilometer mehr. Der typische lothringische Grenzpendler dagegen legt pro Fahrt zwischen Wohn- und Arbeitsort 40 Kilometer zurück. Im Schnitt 49 Kilometer fahren wallonische Grenzpendler zur Arbeit; in ganz Belgien ist die mittlere Distanz mit 22 Kilometern nicht mal halb so lang.
Bei der auf dem Weg zur Arbeit verbrachten Zeit sind die Unterschiede ebenfalls merklich. 2010 war jeder Grenzpendler pro Tour 53 Minuten bis zum Arbeitsort unterwegs. Lothringische Pendler benötigten 46 Minuten, der „Durschnittsfranzose“ im eigenen Land braucht nur halb so lange. Und weil der Luxemburger Arbeitsmarkt auch nach Beginn der Krise 2008 nicht sofort eingebrochen war und die Zahl der Frontaliers weiter wuchs, hatten sich zwischen 2007 und 2010 die mittleren Fahrzeiten für sie sogar leicht erhöht.
Da überrascht es nicht, dass Pendler beizeiten aufbrechen, damit die Fahrt zur Arbeit, falls sie nicht im Zug erfolgt, auch im Auto möglichst zügig vonstatten geht. Dass jeder zweite Frontalier seine Reise nach Luxemburg schon vor sieben Uhr antritt, hängt nicht nur mit den jeweils geltenden Arbeitszeitvorschriften zusammen, sondern hat auch damit zu tun, dass frühmorgens die Straßen nicht so voll sind. Bis sechs Uhr zum Beispiel kann ein Pendler darauf hoffen, sich mit einer Reisegeschwindigkeit von im Schnitt 59 Stundenkilometern fortbewegen zu können. Zwischen sechs und acht Uhr, zur Stoßzeit, sind es nur 50 Kilometer pro Stunde, was auf der Durchschnitts-Arbeitsstrecke einem Zeitverlust von ungefähr zehn Minuten entspricht.
Wie das Forscher-Team des Ceps in seiner 2010 und 2011 in zwei Durchgängen durchgeführten, aufwändigen Befragung von 7 235 Pendlern herausfand, sind offenbar längst nicht alle in ihr Auto so vernarrt, dass sie es keinesfalls missen würden für die tägliche Fahrt zur Arbeit. Für jeden dritten beziehungsweise jeden vierten Auto-Pendler ist die Fahrt im PKW gleichbedeutend mit Ermüdung, Stress und verlorener Zeit. Und wenngleich der Anteil der Autofahrer, die mit ihrer Fortbewegungsart unzufrieden sind, mit 48 Prozent bei den französischen Frontaliers am höchsten ist und mit der Überlastung der Metzer Autobahn zu tun haben dürfte, findet auch jeder dritte belgische und deutsche Pendler seine Autofahrt zur Arbeit wenig erfreulich. Auch eine Sorge um die Umwelt, das Klima und die Endlichkeit fossiler Brennstoffe schwingt da mit: Fast 80 Prozent aller Pendler halten Autofahren eigentlich für Umweltfrevel. Fast jeder Vierte assoziiert die westliche Lebensweise an erster Stelle mit „alternativer, umweltfreundlicher, sauberer Energie“  und identifiziert sich damit. Vor allem unter den belgischen Grenzpendlern schreiben viele sich selbst eine besonders „umweltfreundliche“ Einstellung zu.
Umzusteigen auf den öffentlichen Transport wäre sogar für mit ihrer täglichen Reise nach Luxemburg und zurück zufriedene Autofahrer eine Option – falls das Angebot größer wäre als bisher, wenn neue Bus- oder Bahnlinien entstünden oder auf den bestehenden die Taktfrequenzen erhöht, Fahrpläne und Anschlüsse „verbessert“ würden. Müsste demnach das Angebot des öffentlichen Transport weiter ausgebaut werden? Ohne Zweifel spielt dieser Punkt eine wichtige Rolle. Dass zwischen 2007 und 2010 die Zahl der Bus- und Bahnbenutzer unter den Pendlern stieg, hat eindeutig auch mit den in der Zeit neu eingerichteten Buslinien, zusätzlich eingesetzten Zügen und neu angelegten Park & Ride-Plätzen zu tun. Doch unter den europäischen Wirtschaftsstandorten, die in Grenznähe liegen und viele Pendler aus dem benachbarten Ausland anziehen, stellt Luxemburg eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Regio-
nen wie die um Genf oder um Lille mögen noch größer und ebenfalls mit Mobilitätsproblemen konfrontiert sein. Nirgendwo in Europa aber ist der Pendler-Anteil an den beruflich Aktiven mit 44 Prozent so hoch wie in Luxemburg. Demnach müsste das Angebot im öffentlichen Transport womöglich ganz außerordentlich wachsen.
Und die Situation der Pendler ist noch komplexer. Seit der Jahrtausendwende wuchs nicht nur die Zahl der Berufspendler; sie wurden auch deutlich wohlhabender. Noch 2003 lag das Monatseinkommen der meisten Grenzpendler-Haushalte bei 2 000 bis 3 000 Euro in laufenden Preisen. 2010 betrug es für die meisten 4 000 bis 6 000 Euro. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Haushalte mit über 6 000 Euro Monatseinkommen um mehr als zehn Prozentpunkte, und der Anteil der Führungskräfte unter den Frontaliers wuchs um den Faktor 2,5.
Gleichzeitig nahm der Anteil der Wohnungseigentümer unter den Grenzpendlern um 15 Prozent zu. 2010 waren 80 Prozent der belgischen, 74 Prozent der französischen und 60 Prozent der deutschen Pendler Eigentümer. Eigentümer sein heißt in 75 Prozent der Fälle, ein Einfamilienhaus zu besitzen. Nicht selten dort, von wo in der Berufsverkehrszeit kein Bus im Fünf-Minuten-Takt nach Luxemburg verkehrt, geschweige ein Zug. Die „räumliche Ausbreitung des Wohnbereichs der Grenzpendler“, schreiben die Ceps-Forscher, habe die Zersiedelung der grenznahen Regionen erhöht, von wo die Fortbewegung zur Arbeit oft ein Auto voraussetzt. Ein Grund für die weiterhin „verstopften Hauptverkehrsachsen“ liege auch hier. Letzten Endes hat sich das Luxemburger Entwicklungsmodell mit der Mittelklassebildung auf hohem Einkommensniveau  nur über die Grenzen hinweg ausgedehnt, mit allem was daraus an Problemen folgt.

Gerber, Philippe (Hrsg.), „Die Mobilität der in Luxemburg beschäftigten Grenzgänger: Dynamik und Perspektiven“. Sondernummer in der Reihe Les Cahiers du Ceps/Instead. 2012. Die Veröffentlichung ist auch in Französisch erschienen.
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