Deutschland

Neue Mischungen

d'Lëtzebuerger Land vom 30.08.2019

Am 9. November jährt sich zum 30. Mal der Fall der Berliner Mauer. Zeiten, an die man sich in Deutschland gerne erinnert. An die Wende in Ostdeutschland im Herbst 1989. Der nationale Taumel. Der Untergang der DDR, einer Diktatur, ein Staat, der sich einmauerte, mit Selbstschussanlagen an den Grenzen. Genau dieser Staat war in den vergangenen Wochen der Wahlkampfschlager in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wo in den kommenden Wochen Landtagswahlen stattfinden. Für die Landtage in Dresden und Potsdam an diesem Wochenende, in Erfurt Ende Oktober.

Das Stimmungsbild: In Sachsen liegt nach aktuellen Umfragen die CDU vorne mit 29 Prozent, was ein Minus von zehn Prozent gegenüber der Wahl von 2014 ausmacht. Es folgt die AfD mit 25 Prozent, die Linke mit 15 Prozent, Grüne mit elf und SPD mit acht. Derzeit ist unklar, ob die FDP die Fünf-Prozent-Hürde überspringen und in den Dresdner Landtag einziehen wird. Beim nördlichen Nachbarn Brandenburg liegen AfD und SPD mit jeweils 21 Prozent gleichauf, es folgen CDU, Linke und Grüne mit jeweils um die 15 Prozent. Auch hier ist noch nicht sicher, ob die FDP und die Freien Wähler im nächsten Landtag vertreten sein werden. Sollte dies so sein, dann wird die derzeitige Rot-rot-grüne Regierungskoalition in Potsdam keine Mehrheit mehr haben.

So beginnen ungeahnte Farbenspiele: Die CDU in Brandenburg zeigt sich etwa offen für eine Koalition mit den Linken. Ingo Senftleben, Spitzenkandidat der dortigen CDU, erklärte in einem Interview mit Focus Online: „Ich strebe keine Koalition mit den

Linken an. Ich sehe es aber realistisch: In einer Demokratie muss man ein Stück gesprächsbereit bleiben.“ Die Linke sei „in Teilen genauso radikal, wie es die AfD ist“, so Senftleben. Zu akzeptieren sei aber, dass die Partei in mehreren Bundesländern Verantwortung übernommen habe; in Brandenburg etwa schon seit zehn Jahren. Die Linke habe „auch nicht alles verkehrt gemacht. Es zählt für mich, was wir in den nächsten fünf Jahren für Brandenburg erreichen wollen.“ Ein Bündnis mit der AfD schloss er hingegen aus: „Es gibt keine Koalition mit der AfD. Punkt.“

Die AfD bediente den Mythos DDR am perfektesten. Einerseits als nostalgischen Anknüpfpunkt für die eigene Biografie, in dem etwa die jeweiligen Wahlkreis-Kandidaten mit einem Trabbi oder einem „QEK Aero“ vorgefahren kamen. Was Erinnerungen weckte, denn dies war ein seinerzeit begehrter Wohnwagen aus dem VEB Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf. Andererseits wurde die DDR als abschreckendes Beispiel strapaziert. Dazu wurde beispielsweise über die sozialen Netzwerke die Verschwörung verbreitet, dass alle etablierten Parteien sich auf einen einzigen Direktkandidaten geeinigt hätten, um so Stimmen zu bündeln und den Kandidaten der AfD zu verhindern. Auch wenn die anderen Parteien dies dementieren und die Kandidaturen der Parteien offensichtlich waren, blieb die Assoziation zu den Blockparteien mit Einheitslisten im DDR-System.

Doch die AfD leistete sich auch ein veritables Eigentor, in dem sie die Bewerberliste für den Landtag nicht ordnungsgemäß aufstellte, wurde die Hälfte der Kandidaten nicht anerkannt und nur 30 Bewerberinnen und Bewerber für die rechtspopulistische Partei zugelassen. In der Konsequenz kann das bedeuten, dass die AfD – die sich umgehend abermals zum Opfer einer weiteren Verschwörung stilisierte – am Sonntag einen veritablen Sieg einfahren wird, dann aber nicht alle Mandate besetzen kann. Der Erfolg der AfD fußt auch darauf, dass sich kein politisches Gremium an eine Bestandsaufnahme wagt über das, was in den dreißig Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer gut gelaufen ist und woran der Vereinigungsprozess gescheitert ist. Ein unerschöpflicher Quell für die AfD zur Konstruktion von Opfer-Mythen.

Ob die Grünen an ihren Erfolg von der Europawahl im Mai anknüpfen kann, wird sich zeigen müssen. Ostdeutschland war für die Partei von jeher ein schwieriges Pflaster. Die Partei konnte mit ihrer Agenda selten überzeugen. Der Ausstieg aus der Kohleverstromung wird den Grünen als Manko, Unkenntnis von ostdeutschen Wirtschaftsstrukturen und Klimawandelhörigkeit zugeschrieben; die nun zugesagten Fördergelder in Milliardenhöhe, die in der kommenden Dekade die Folgen des Ausstiegs abmildern soll, sind noch nicht greifbar. Doch das Wahlkampfgeschenk der Berliner Regierungsparteien auch an die beiden Kohleländer Brandenburg und Sachsen hat einen Haken: Es fehlt das Gesetz zum Kohleausstieg selbst. Derzeit verhandelt der Bund noch mit den Energiekonzernen, welches Kraftwerk wann vom Netz gehen soll. Und dann ist da noch die SPD: Am Sonntag endet die Bewerbungsfrist für den oder die Chefsessel der Partei.

Martin Theobald
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