Monarchie

Gezeiten

d'Lëtzebuerger Land vom 30.12.1999

Die Thronablösung vom kommenden September dürfte den Epochenwechsel stärker verdeutlichen als der bevorstehende Übergang ins neue Millennium oder gar der Regierungswechsel vom vergangenen Sommer. Jahre und Jahrzehnte vergehen, Regierungen kommen und gehen, Politiker drehen ihre Nummer und treten ab. Von ihrem Wesen her unvergänglich bleibt die Monarchie als zeitloser Fixpunkt sich selbst treu, abgehoben, gleichzeitig überzeitlich und unzeitgemäß, was ihren besonderen Reiz ausmacht. Sie verkörpert Kontinuität, Permanenz und Standfestigkeit in einer sich schnell wandelnden Zeit. Erbgroßherzog Henri hat in einem Interview in treffenden Worten auf die Einzigartigkeit der konstitutionellen Monarchie als Regierungsform aufmerksam gemacht (siehe Seite 4).

Das 36jährige Regnum von Großherzog Jean wird in die Geschichte eingehen als die "36 glorieuses", eine Periode von beispiellosem und ständig wachsendem materiellem Wohlstand. Zwischen 1964 und heute verachzehntfachte sich das Bruttosozialprodukt von 38 auf rund 700 Milliarden Franken. Der Großherzog, bescheiden wie er ist, wird natürlich jeden Versuch von sich weisen, einen Kausalzusammenhang herzustellen, und er dürfte sich dankbar dafür zeigen, dass es ihm vergönnt war, unter derart günstigen Voraussetzungen als Staatsoberhaupt zu wirken. Robert Weides hat den Begriff "trente glorieuses" im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Periode 1945-1974 verwendet, und er kennzeichnet die folgenden Jahre als "cercle vertueux". Der vom Statec herausgegebenen SammelbandL'Économie luxembourgeoise au 20e siècle (éditpress) bietet übrigens einen ausgezeichneten Rück- und Ausblick sowie reichlich Futter zum Nachdenken. Kronprinz Henri hat einen maßgeblichen Anteil an der wirtschaftlichen Diversifizierungspolitik, die ab Mitte der Achtzigerjahre die von der Stahlindustrie ausgelöste Strukturkrise überwinden half.

Es wäre genauso vermessen, den Großherzog in irgendeiner Form in Verbindung zu bringen mit dem "vague à l'âme", dem "Blues" oder "Spleen", die die Stimmung und Befindlichkeit in Luxemburg genau wie anderswo in Europa an der -Zeitenwende kennzeichnen. Der französische Wirtschaftshistoriker Jacques Marseille hat es in einem Rückblick auf den Punkt gebracht: "Curieusement, ce siècle - sans nul doute celui qui a connu le plus grand progrès économique et social - s'achève sur un sentiment diffus de malaise, de mal-être. Pour le grand public, l'économie, aujourd'hui, c'est la mal-bouffe, la destruction de l'environnement, les licenciements et les gains financiers, la réticence du patronat à diminuer le temps de travail, le stress dans les entreprises. Le moins l'emporte largement sur le plus." Aus der Sicht des Professors der Universität Panthéon-Sorbonne gibt es im ganzen Jahrhundert nur zwei Jahrzehnte (die Sechziger- und die Siebzigerjahre) die als "période faste" empfunden wurden. 

Es ist wohl kaum zu bestreiten, dass auch Luxemburg längst von der rauheren Wirklichkeit eingeholt wurde, die das Geschehen jenseits seiner engen Grenzen bestimmt. Gerade die letzten Jahre haben auch bei uns Realitäten und Zustände eingebürgert, von denen wir uns lange als Insel der Glückseligen verschont wähnten. Ein paar Stichworte, mittlerweile Dauererscheinungen, verdeutlichen, wie sich die Zeiten verändert haben und die Unbeschwertheit wohl endlich der Vergangenheit angehört: "Dysfonctionnements" im Staatsapparat, Korruption, institutionelle Krisen, Autoritäts- und Glaubwürdigkeitsverlust der Politik, Ladehemmungen beim sozialen Dialog, Zukunftsängste im Zusammenhang mit der langfristigen Absicherung der sozialen Errungenschaften und mit dem wohl bis zur Bedeutungslosigkeit schrumpfenden Einfluss Lu-xemburgs in einem erweiterten Europa, Angst vor Überfremdung, gekoppelt mit repressivem Vorgehen gegen Flüchtlinge und Asylsuchende usw.

Vor diesem Hintergrund stellt die Monarchie als Institution einen ruhenden Pol dar, eine Rekursinstanz, die über dem Ganzen steht und irgendwie beruhigend wirkt, ein Zufluchtsort und ein Objekt der Hinwendung in unsicheren Zeiten. Sie verkörpert bleibende Werte, die im hektischen Tagesgeschäft zusehends unter die Räder oder in Vergessenheit geraten.

Mario Hirsch
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