Ein neues Gesetz soll die Orientierung professionalisieren und modernisieren. Bloß: Zusammenarbeit lässt sich nicht dekretieren

Berufsberatung anders denken

d'Lëtzebuerger Land vom 28.04.2017

Wenn Janine Neves aus den Fenstern ihres Büros schaut, guckt sie direkt auf den Stäreplaz. Laut einem Masterplan sollte hier ein attraktiver urbaner Raum als Zugang zum Stadtzzentrum entstehen, davon ist bis heute allerdings nichts zu sehen.

Ambitiös waren auch die Pläne um die Maison de l’orientation, die sich im alten Clearstream-Gebäude an der Innenstadtgrenze befindet. Sie sollte die zentrale Anlaufstelle werden für alle Art von Fragen rund um die schulische und berufliche Orientierung, jahrzehntelanges Sorgenkind des Luxemburger Schulsystems, das von Lehrern, Eltern, Arbeitgebern immer wieder als Hauptproblem ausgemacht wird, dass viele Jugendliche selbst nach erfolgreichem Abschluss nicht wissen, was sie werden wollen, dass sie ungenügend über mögliche Ausbildungswege informiert sind und viele zudem unrealistische Berufswünsche hegen.

Nevez ist seit einem Jahr Koordinatorin des Hauses. Sie ist dafür zuständig, dass die Dienste, die für die Orientierung verantwortlich sind, zusammenarbeiten und dass die Maison de l’orientation „mit einer Stimme spricht“. Das jedenfalls war die Idee, als 2012 der Elterndachverband Fapel, das Berufsinformationszentrum BIZ, der schulpsychologische Dienst C-Pos, der schulische Ausländerdienst Casna, Action locale pour jeunes und Anefore in die Räume am Boulevard Grande-Duchesse Charlotte zogen.

Hier sollten Jugendliche und Erwachsene alle Fragen rund ums Thema Orientierung beantwortet bekommen. Ob das nun Informationen über Berufsbilder, Jobbörsen, Praktikumsplätze und potenzielle Arbeitgeber im Berufsinformationszentrum im Erdgeschoss angeht, ob es um ausländische Eltern geht, die nicht wissen, welche Schule zu ihrem Kind passt, ob es Arbeitnehmer sind, die nach einer Krankheit umschulen wollen. Außerdem sollte die Maison als Ressourcenzentrum für die Schulen im Land dienen.

Doch vier Jahre nach der Gründung ist die Zwischenbilanz ernüchternd. Nicht nur sieht die Maison wenig einladend aus: Wer das BIZ im Erdgeschoss besucht, wähnt sich im Arbeitsamt. Eine Nummer ziehen, warten, bis die Digitalanzeige die gezogene Nummer aufruft, dann gibt es Auskunft von einem Sacharbeiter, der hinter einem hohen Desk sitzt – dass die nüchterne unpersönliche Handschrift einer Verwaltung hilft, um Jugendlichen die Scheu vorm Schritt ins Berufsleben zu nehmen, ist unwahrscheinlich. „Wir wollen den Eingangsbereich freundlicher, offener gestalten“, verspricht Janine Nevez. Die Pläne sind gezeichnet und die Möbel bestellt. Die abgeblendeten Fenster im Erdgeschoss sollen neu beklebt werden, so dass die Beratungsangebote von außen besser sichtbar sind, um mehr Laufkundschaft anzuziehen.

Doch es geht nicht nur um räumliche Verschönerungen, die Probleme der Maison liegen tiefer. Viele, für die die Maison de l’orientation die erste Adresse wäre, wissen nicht einmal, dass es sie gibt. Für die Jugendlichen, die meistens im Verbund ihrer Klasse vorbeikommen, ist das BIZ ein Pflichtbesuch. Dass jemand spontan aus reiner Neugierde vorbeikommt ist, trotz 16 000 Beratungsgesprächen im Jahr, eher selten. Und obwohl im Laufe der Jahre die Kontakte enger wurden, integriert im Sinne einer zentralen Anlaufstelle, in der alle Anfragen zur Berufsorientierung beantwortet werden können, sind die Dienste nicht, obwohl Neves betont, „alle Instrumente und Spezialisten“, die gebraucht würden, seien da (allerdings ist das Informations- und Dokumentationszentrum des Hochschulministeriums, das Cedies, nicht in der Maison untergebracht, sondern hat seinen Sitz in der Montée de la pétrusse).

Lange Zeit war die Funktionsweise der Maison ungeklärt. Es fehlte ein Plan, wie die Integration der Dienste, die unterschiedlichen Ministerien unterstehen, ablaufen soll. Ein Gesetz, das diesen Donnerstagnachmittag im Parlament diskutiert wurde, soll das ändern. Es beschreibt Ziele und Aufgaben der Maison de l’orientation, zuvorderst: guichet unique für die Orientierung zu sein mit kohärenter und konzertierter Vorgehensweise, die agil und flexibel genug ist, auf Arbeitsmarktveränderungen rasch einzugehen.

Die Weichen wurden vor über sechs Jahren im Forum orientation gestellt. Die Plattform, in der Vertreter des Bildungs-, des Hochschul- und des Arbeitsministeriums mit Vertretern der Berufskammern, der Gewerkschaften, der Schulen und der Eltern sitzen, hatte nach aufwendigen Beratungen 2010 in einem Bericht eine Vision vorgelegt, wie die schulische und berufliche Orientierung verbessert werden könnte. Dabei ging es vor allem um eine Standardisierung der schulischen Orientierung, die Harmonisierung unterschiedlicher Beratungsangebote sowie die Professionalisierung des orientierenden Personals. Paul Krier, Leiter der Abteilung Ausbildung der Handwerkskammer, nennt es „eines der besten Papiere“, die hierzulande zum Thema geschrieben wurde. Der Bericht hält auf 29 Seiten fest, was es braucht, damit die Orientierung zielorientierter, reaktiver und vor allem professioneller wird. Damals fand er großen Konsens.

Der Gesetzentwurf ist leider nicht so gut geschrieben. Mehrfach musste der Text überarbeitet werden, weil Änderungen in anderen Gesetzen vergessen wurden und der Staatsrat in seinen drei (sic!) Gutachten zahlreiche Rechtsunsicherheiten erkannte. Einige der Vorschläge des Orientierungsforums, das künftig eine feste Größe in Planung und Entwicklung von Projekten zur Orientierung werden soll, finden sich im Gesetz wieder. Zum Beispiel der Referenzrahmen Orientierung, an dem MO-Koordinatorin Janine Neves mitgeschrieben, den das Ministerium im Januar veröffentlicht hat und der den Schulen Leitlinien vorgibt, wie die Orientierung organisiert sein soll (d’Land vom 27.1.2017). Künftig soll jede Schule eine Orientierungszelle haben, in der Jugendliche Informationen und Tipps zur Schul- udn Berufswahl erhalten. Dafür wird der schulpsychologische Dienst C-Pos umgebaut: Als Centre psycho-social et d’accompagnement scolaires kümmert er sich um Kinder, die Schwierigkeiten in der Schule oder Zuhause haben, oder die aus anderen Gründen psycho-soziale Betreuung brauchen. Beratung zur schulischen und beruflichen Orientierung soll dagegen künftig von geschulten Lehrern in den Orientierungszellen übernommen werden. Die Änderung war zunächst bei Erziehern und Psychologen auf Skepsis gestoßen. Berufsvertretungen wie die Handwerkskammer bemängeln jedoch seit Jahrzehnten den defizitären Blick der herkömmlichen Orientierung. „Die Orientierung ist keine Antwort auf ein Problem oder einen Fehler, sondern ein Recht, das jedem Schüler zusteht, eine Antwort auf bestimmte Kompetenzen, die ein Schüler hat“, betont Paul Krier. Lange Zeit sei vor allem entlang von Schwächen orientiert worden: Wer es problemlos durchs Lyzeum schafft, brauchte Spos und C-Pos in der Regel nicht. Wer aber nicht die nötige Punktezahl in den Hauptfächern Deutsch, Französisch und Mathe hatte, musste reorientiert werden, sei es schulisch (auf eine andere Schule oder Schulstufe) oder beruflich. Dieser „defizitäre Blick“ sei der Grund, warum das Handwerk von vielen als Notnagel gesehen werde, statt als eine dynamische Wirtschaftsbranche für Menschen mit manuell-konzeptuellen Fähigkeiten und tollen Aufstiegschancen, sagt Dan Schroeder, Leiter der Abteilung Grundausbildung der Handwerkskammer. Grundsätzlich begrüßt die Kammer das Gesetz.

Es gibt auch Kritik. Die acht Stunden Weiterbildung für Orientierungslehrer der Schulen ist nicht viel (für Mitarbeiter der Maison gelten 16 Stunden verpflichtende Weiterbildung jährlich). Auch das Zusammenspiel zwischen Maison de l’orientation, Schulen und Betrieben ist trotz Steuerungskomitee und Service de coordination nicht ganz klar. Zusammenarbeit lässt sich schlecht durch ein Gesetz dekretieren. Janine Neves, die zuvor bei der RTL-Gruppe die gemeinsame Kommunikation der nationalen Häuser geleitet hat, spricht von „dezentralem Management“: „Alle Dienste sollen dieselbe Stimme benutzen, um zu sprechen, aber zugleich ihre eigene Identität behalten.“ Im Comité de pilotage, in dem die Chefs der Dienste vertreten sind, kann schon heute jeder ein Thema auf die Tagesordnung setzen. Was allerdings geschieht, wenn mal keine Einigung gefunden wird, ist unklar. Und wird durch das Gesetz nicht klarer, wie Sylvie Andrich-Duval von der CSV kritisch anmerkte. Die größte Oppositionspartei stimmte das Gesetz gleichwohl.

Als das Bildungsministerium eine Koordinatorin suchte, war in der Aufgabenbeschreibung neben Kommunikation und Konzeptarbeit offenbar Erfahrung in Mediation gesucht. „Als Mediateurin bin ich aber nicht im Einsatz“, betont Janine Neves. Sie setzt auf Überzeugungskraft und bessere Argumente: „Warum sollte ich Themen vorschlagen, die von vornherein nicht zustimmungsfähig sind?“ Aber was, wenn beispielsweise ein neuer Schwerpunkt, wie die Automatisierung oder Industrie 4.0 und damit verbundene neue Berufsbilder von den Diensten aufgegriffen werden und dazu eine gemeinsame Strategie entwickelt werden soll? Im Prinzip wäre es am Forum orientation, das vorzuschlagen, Neves würde die Umsetzung koordinieren und das Steuerungskomitee die Umsetzung in den Diensten sicherstellen. Aber wie dies in die Schulen gelangt und was geschieht, wenn ein Dienst den Schwerpunkt nicht unterstützt, dazu liefert das Gesetz keine Antworten.

Sylvie Andrich-Duval kritisiert noch einen Blindfleck: Obwohl sich die Maison de l’orientation als Dienst für alle versteht, gibt es bisher kaum Möglichkeiten, Feedback über die Qualität der Beratungsdienste abzugeben. Eine Evaluation in Vorbereitung auf das Gesetz gab es nicht, Umfragen über die Zufriedenheit der Bürger mit öffentlichen Dienstleistungen sind allgemein Mangelware, Ausdruck einer Verwaltung von oben, die sich in großen Teilen immer noch als Vollzugsorgan staatlicher Regelungen versteht statt als Dienst am Bürger. Um gewappnet zu sein für die Herausforderungen einer Dienstleistungsgesellschaft, in der stets neue Berufe und Berufsbilder entstehen, die Halbwertszeit von Wissen und die Spezialisierung rasant voranschreiten, braucht es Ressourcen. Koordinatorin Janine Neves, obwohl seit einem Jahr im Amt, hat nicht einmal ein eigenes Sekretariat.

Ines Kurschat
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