Flat Tax

Curiouser and curiouser

d'Lëtzebuerger Land vom 29.05.2008

„Curiouser and curiouser“, rief Alice, als sie immer größer und größer wurde. Alice im Wunderland, in dem es allerhand fabelhafte Wesen, wie sprechende Kaninchen, Grinsekatzen sowie singende Miesmuscheln gab. Ins Reich der Fabeln und Märchen verweist manch einer auch die so genannte Flat Tax, die Staats- und Finanzminister Jean-Claude Juncker (CSV) in seiner Rede zur Lage der Nation vergangene Woche erwähn­te. Eine Studie über die Flat Tax, erstellt von der Steuerverwaltung, überreich­te der Staatsminister an die Mitglie­der der Budget- und Finanzkommission des Parlaments, damit man sie dort diskutieren könne, so Juncker am Donnerstag. 

Gesagt, getan. Bleibt die Frage weshalb. Denn der Staatsminister wird derzeit nicht müde zu betonen, dass man mit selektiven Sozial- und Steuermaßnahmen den Geringverdienern helfen muss. Da ist es in der Tat kurios, wenn man eine Flat Tax studieren lässt. Zudem ist er den Forderungen der Privatwirtschaft, die in einer Arbeitsgruppe unter Budgetminister Luc Frieden ihre Desiderata vorgetragen haben, entgegengekommen. Auch wenn einige hinter vorgehaltener Hand bereits nörgeln, die Unternehmensbesteuerung würde, wenn die Besteuerungsbasis erweitert werde, gar nicht auf die 25,5 Prozent absinken, wie es der Staatsminister  angekündigt habe. Eine Flat Tax will aber dort niemand gefordert haben. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass ein solcher Einheitssatz den Steuerberatern, Beratungsfirmen und Fiskalingenieuren wahrscheinlich beachtliche Umsatz­einbußen bescheren würde.

Die Studie hat Jean-Claude Juncker selbst bei der Steuerverwaltung in Auftrag gegeben. Was ihn dazu bewegt haben mag? Man weiß es nicht so recht. Doch wer die Studie liest, kommt zu folgendem Schluss: Sind sich der Minister und die Steuerverwaltung einig in ihrer Einschätzung, dann wurde sie wohl angefertigt, um sie in Zukunft all denen vorhalten zu können, die sich vielleicht einen Einheitstarif wünschen würden, und ihnen sagen zu können: „Nicht machbar.“ Sozusagen ein Präventivschlag vom Staatsminister, mit Überraschungseffekt, der alle Diskussionen, die über die Finanzkommission hinausgehen würden, im Keim ersticken soll. 

Oder aber, das Papier soll als abschreckendes Beispiel dienen, um ei­ne Vereinfachung des Steu­ersystems in Angriff zu nehmen, die weniger dramatisch ausfällt als eine Einheitsbesteuerung, aber dennoch einiges an Progressivität aus dem System nimmt. Eine Vereinfachung, wie sie zum Beispiel die ADR seit einigen Jahren fordert, mit weniger Steuerklassen, weniger verschiedenen Steuersätzen und nicht zuletzt der Individualbesteuerung. Ihre Vorschläge hatte der Premier ja bereits letztes Jahr der Steuerverwaltung zur Begutachtung vorgelegt.

Dieselbe Verwaltung kommt nun in der von Juncker beauftragten Studie zum Schluss, dass eine Flat Tax in ihrer reinsten Form schon wegen der EU-Auflagen nicht machbar sei, vor allem den Besserverdienern zugute komme, der Bevölkerung deswegen kaum vermittelbar sei. Sie laufe zudem konträr zur bisherigen Steuernischenpolitik, und man müsste einen relativ hohen Einheitssatz anwenden, um die Einnahmen auf dem aktuellen Niveau zu halten. 

Doch eins nach dem anderen. Die Flat Tax, eine Erfindung der Achtzigerjahre, damals vor allem in angelsächsischen Sprachraum beherzt diskutiert, bezeichnet ursprünglich die einmalige Besteuerung der in der Wirtschaft vorhandenen Liquiditä­ten. Das heißt, es wird nur einmal besteuert, dann, wenn das Geld ausgegeben wird – eine Art Verbrauchssteuer –, daher gibt es nur einen einzigen Steuersatz. Weil in Europa die Mehrwertsteuer Pflicht ist, das Steuersäckel aber vor allem durch die Einkommenssteuer gefüllt wird, ist das Prinzip der einmaligen Besteuerung, entweder am Anfang oder am Ende der Verbrauchskette ohnehin schwer aufrechtzuerhalten. Weswegen auch die EU-Länder, die ein Flat-Tax-System haben – vor allem sind es die neuen Mitgliedstaaten im Osten der Union –, sich ziemlich weit von der ursprünglichen Idee entfernt haben. Nur die Slowakei hat einen identischen Steuersatz für Personen und Unternehmen, der bezieht sich aber auf deren Einkommen. 

In Luxemburg wäre die Problematik – TVA oblige – nicht anders gelagert, wie die Steuerverwaltung schreibt, wes­­wegen sie sich auf die Analyse einer Einheitssteuer auf dem Einkommen, spezieller auf drei Punkte konzentriert: einer Steuerbefreiung der Kapitalerträge, der Ausweitung der Steuerbasis und einem einheitlichen Steuersatz auf allen Einkommen. So ziemlich alle Steuern und Taxen, die es augenblicklich auf Kapitalerträgen gibt – dazu gehören Zinserträge, Dividenden, Tantiemen, Einkünfte aus dem Verkauf von Wertpapieren – müssten abgeschafft werden, wobei auch die Zinsbesteuerung auf europäischem Niveau geregelt ist und es auch hier, genau wie bei der Mehrwertsteuer, einen Konflikt zwischen einer nationalen internen Flat Tax und äußeren Verpflichtungen gibt.

Eine Ausweitung der Steuerbasis könn­te sich weitestgehend an den Bestrebungen der EU-Kommission für eine harmonisierte Basis der Betriebsbesteuerung orientieren, schreibt der Fiskus. Allerdings müssten auch folgende Steuerabschläge abgeschafft wer­den: die für Investitionen, im audio-visuellen Bereich oder Risikokapital – man denke an den E-Commerce –, für die Einstellung von Arbeitslosen, für die Weiterbildung. Auch die nagelneuen Abschläge auf geistigem Eigentum, die so neu sind, dass die Steuerverwaltung noch nicht einmal das Rundschreiben darüber, wie dieser Abschlag zu berechnen ist, angefertigt hat. Außerdem müssten alle Spezialregimes wie SICAR, SICAV, Verbriefungsgesellschaften, SPF und FIS neu überdacht werden, „im Sinne einer vollkommenen Abschaffung aller Steuervorteile, von denen diese Organismen profitieren“, heißt es in dem Papier.

Und für den privaten Steuerzahler? Es würde nur noch eine Einkommensklasse geben, auch im Elternurlaub müssten Steuern gezahlt werden, wie auch auf verschiedenen Renten. Alle Abschläge, die nicht mit dem beruflichen Einkommen zu tun haben, würden abgeschafft, zum Beispiel auf Versicherungsprämien, Bausparverträ­gen, privaten Rentenversicherungen, Spenden etc.: „La Flat Tax, caractérisée par sa neutralité vis-à-vis de l’état civil et de la famille du contribuable, ainsi que par un faible effet de redistribution verticale entraînerait également l’exclusion de toute incidence des charges familiales sur l’impôt.“ 

Damit der Einheitstarif ein Einheitstarif ist, muss er identisch sein für alle Unternehmen, unabhängig von der juristischen Form, und auch für die Privatpersonen. Das, bemerken die Beamten vom Fiskus, würde die Daseinsberechtigung vieler Steuerkonstrukte in Frage stellen. Viele „Steuergeschenke“ würden verschwinden, so dass sich der Einheitsteuersatz relativ niedrig angesetzt werden müsste, damit die Wirtschaft nicht drauflegt: ungefähr 15 Prozent, meint die Steuerverwaltung. Und schickt sofort eine Warnung hinterher: Würden Privatpersonen allerdings auch nur 15 Prozent Einkommenssteuer bezahlen, – das heißt die, die mindestens 12 000 Euro jährlich verdienen, alle anderen zahlen keine Steuern – ohne von den derzeit existierenden Abschlägen zu profitieren, gäbe es Probleme mit dem Staatshaushalt: Weil die Reichen derzeit einen mehr als doppelt so hohen Spitzensteuersatz zahlen – das würden sie dann nicht mehr tun. Und weil für den Fiskus die Einnahmen aus den Kapitalerträgen wegfielen, was zusätzlich die Reichen begünstigt, – wie viele Mindestlohnbezieher haben schon ein Wertpapierportfolio? Resultat: Ein einheitlicher Einkommenssteuersatz auf diesem Niveau für Privatpersonen und Firmen würde zu erheblichen budgetären Einbußen führen. 

Demnach kommen die Beamten zum Schluss: Auch wenn eine Flat Tax in früheren Sowjetrepubliken funktionieren mag, in Luxemburg ist sie schwer umsetzbar. Anders ausdrückt: Was soll der Wirtschaftsminister auf seinen Auslandsmissionen ausländischen Unternehmen noch an Steuergeschenken machen, damit sie ihre Produktion oder ihren Sitz hierher verlegen? Der Politik ginge ein wichtiges Steuerungsinstrument verloren. Genau wie dieAnreize, die auf nationaler Ebene dafür sorgen sollen, dass investiert und innoviert wird und Arbeitslosen ein Neueinstieg in die Arbeitswelt gewährleistet wird. Der Wettbewerb mit anderen Ländern würde nur mehr auf dem Unternehmenssteuersatz ausgetragen, der Druck auf Luxemburg enorm wachsen, diesen möglichst niedrig zu halten, um in den internationalen Steuerrankings zu glänzen. 

Dass auch die Steuerverwaltung der Einheitssteuer nicht besonders viel abgewinnen kann, oder sie sich zumindest keine Illusionen darüber macht, dass irgendwelche Steuerabschläge abgeschafft werden, sagt sie klar und deutlich, gibt sogar Beispiele. Der Abschlag auf Investitionen sei erst mit dem Steuergesetz von letztem Dezember weiter erhöht worden. Während der Steuerreformen von 1990 und 2001 hätte die Vielfalt der Personenbesteuerungsrabatte wie auf Versicherungen, Bausparverträgen und Zusatzpensionen eigentlich zusammengefasst werden sollen. Dazu sei es nie gekommen; die Bausparkassen lebten schließlich von der steuerlichen Absetzbarkeit ihrer Produkte! Auf Druck der Handels- und der Handwerkerkammer seien in der Privatwirtschaft nicht einmal Essenszulagen anstatt chèques repas eingeführt worden! Vermehrt setzen die Beamten auf den Einsatz von Ausrufezeichen, um zu zeigen, wie sie die Reformfähigkeit in Sachen Steuersystem einschätzen. „L’échec de ces quelques tentatives timides de moduler différemment une déduction fiscale, touchant somme toute un secteur peu important de notre économie, laisse présager la levée des boucliers des lobbies concernés face à une abolition des déductions fiscales.“ Ob bewusst oder unbewusst, stellen die Autoren damit auf jeden Fall ganz deutlich die Standhaftigkeit der politischen Entscheidungsträger gegenüber Lobbyisten in Frage.

Genauso problematisch sehen sie allerdings auch die Akzeptanz eines anderen Lobbyistenverbandes: der Öffentlichkeit, also der Wählerschaft. Weil man ihr das mehrstufige progressive Steuersystem bisher als „moyen d’équité fiscale par excellence“ präsentiert habe, sei nicht davon auszugehen, dass sie eine „substanzielle Minderung“ der Steuerlast zugunsten der Ober- und Mittelschicht in Kauf nehmen würde. Ohnehin reichten 15 Prozent nicht aus, um die staatlichen Einnahmen stabil zu halten. Die 25 oder 30 Prozent, die man dazu erheben müsste, würden allerdings zu einer schlechten Platzierung im internationalen Steuerwettbewerb führen und dazu, dass die Wirtschaft höhere Steuern zahlen würde als bisher. Am 10. Juni wird die Finanz- und Budgetkommission des Parlaments über die Studie diskutieren. Dann wird sich zeigen, ob sie ein Kuriosum bleibt, oder man doch versucht, das Steuersystem zu vereinfachen und etwas abzuflachen.

Michèle Sinner
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