Theater

Wissen ist Macht

d'Lëtzebuerger Land vom 05.10.2006

Es dauert Minutenlang, eine kleine Ewigkeit, bevor ein Schauspieler das erste Wort sagt. Einer zupft in der Ecke an seiner E-Gitarre, die anderen schieben ein paar kleine Tische zu einem langen Versammlungstisch zusammen, stellen Stühle hinzu. Der Bühnenraum des schönen, weil kargen Basler Theaters ist komplett leer, gleicht einem Skelett, die Betonwände, die ganze Technik samt Schaltern und Röhren wurde völlig freigelegt und man versteht sofort: hier wird eben ein Klassiker aufs Wesentliche reduziert. Das Bühnenfenster an der hinteren Wand gibt den Blick zur Straße frei, bis der eiserne Vorhang davor mit einem nervenzerreißenden Lärm sehr langsam heruntergefahren wird. Was wird das? Ein letztes Abendmahl? Eine Gemeinde- oder Verwaltungsratssitzung? Dann sitzen alle da in ihren schicken Manageranzügen oder poppigen Street-design-Kleidern, doch keiner sagt etwas. Bis einer, der wie Jesus in der Mitte sitzt, das Wort ergreift, wissen will, was das Volk in die Verzweiflung treibt, warum es nach seiner Hilfe fleht. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf, auch heute noch, rund 2500 Jahre, nachdem Sophokles die Tragödie schrieb. Die Geschichte an sich ist ja reichlich verworren: Ödipus, König von Theben, soll, so will es das Orakel, den Mörder seines Vorgängers, König Laios, bestrafen, damit die Stadt von der Pest befreit wird. Ödipus übernimmt die Rolle des Untersuchungsrichters, doch je weiter seine Recherchen ihn führen, desto bewusster wird ihm, dass er selbst der Schuldige ist. Laios war sein eigener Vater, er hat ihn selbst umgebracht, seine Frau Iokaste ist zugleich seine Mutter. Ödipus, den die Theber bewundern, weil er die Stadt Kraft seines Muts von der Sphinx befreit hat, ist zugleich deren Untergang. Seine Figur ist eine der tragischsten der Theatergeschichte, da er seinem Schicksal, vor dem er zu flüchten versucht hatte, nicht entkommt.

Nun besteht bei Inszenierungen solcher Überstücke immer die Gefahr, dem Pathos zu verfallen oder aus Respekt vor dem Autor eine absurde Authentizität zu suchen. Der Regisseur Alexander Kubelka jedoch macht genau das Gegenteil: er entschlackt das Stück, bis es selbst nur noch ein Gerippe ist, ein aufs Wesentliche reduzierter Text, der, ohne jede Gegenständlichkeit, einfach nur noch grundsätzliche Fragen über Wissen und Ignoranz, Schicksal und Selbstbestimmung, Individuum und Masse, Schuld und Sühne stellt. Die Managertypen auf der Bühne, die auch einmal den Part des Chors übernehmen, dann wieder ein Orakel, einen Boten oder einen Hirten spielen, unterstreichen die fast schon brutale Nüchternheit des Textes noch mit dem Understatement ihres Spiels. Ganz besonders brilliert darin der Luxemburger Steve Karier, der Mitte der Achtzigerjahre seine Karriere in Basel begann und mit dieser Rolle ein zweijähriges festes Engagement an einer der renommiertesten Bühnen des deutschsprachigen Raumes beginnt. Eine Heimkehr als König, sozusagen – auch nicht schlecht. Seinen Ödipus legt er bewusst kühl und zurückhaltend an, als einen Self-made-man, einen Intellektuellen, der seine Rolle an der Spitze des Staates, den er wie eine Firma führt, sehr ernst nimmt. Mit seiner Frau Iokaste (Katja Reinke), die er liebt und respektiert, überwirft er sich von dem Augenblick an, an dem sie versucht, ihn an der vollkommenen Aufklärung des Kriminalfalles Laios – und der Aufdeckung seiner eigenen, tragischen Geschichte – zu hindern. Diese Spannung zwischen der Frau, die das Orakel, also das Wissen, nicht hören will, um glücklich zu leben, und ihrem Mann (und Sohn), der alles wissen will, um sich dann darüber hinwegzusetzen, gelingt in Alexander Kubelkas Ver­sion besonders gut. Ödipus will um sich und seine Taten wissen. Doch auch später, wenn ihm fast Unerträgliches widerfährt und er sich seine Augen aussticht, um die Tragödie nicht weiter ansehen zu müssen, bleibt er erstaunlich stark, flieht nicht etwa vor Scham zur Stadt hinaus, sondern fordert seine Verbannung von Kreon (Martin Engler), seinem Schwager, früheren Rivalen und jetzigen Nachfolger. Mit Sonnenbrille à la Ray Charles und ganz ohne Blut befiehlt er weiter wie ein König, der er geblieben ist. Parallelen zu heutigen, wahren Geschehnissen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ließen sich bei einer solch abstrakten, also universellen Inszenierung zu Dutzenden aufzeichnen. Ödipus‘ Tragik allerdings, diese völlig unschuldige Schuld, ist außergewöhnlich.

König Ödipus von Sophokles, in einer Inszenierung von Alexander Kubelka, mit Steve Karier, Peter Schröder, Martin Engler, Renate Jett, Katja Reinke, Jörg Schröder, Raphael Traub, Katharina Schmidt und Inga Eickemeier wird noch diese Saison am Theater Basel gespielt. Informationen und Reservierungen im Web unter www.theater-basel.ch.

josée hansen
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