Steuersystem

Besteuern oder steuern

d'Lëtzebuerger Land vom 23.11.2000

Wenn das Parlament in den nächsten Wochen mit dem Haushaltsentwurf auch die in einem Monat in Kraft tretenden Steuersenkungen verabschieden soll, bleibt der Eindruck erhalten, dass die Steuerpolitik der Regierung viel nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum funktioniert. Diesen Verdacht hegen auch die beratenden Organe, die dieser Tage ihre Budgetgutachten verfassten.

So wird die Arbeiterkammer nach eigenen Angaben seit Jahren nicht müde, eine Analyse des Steuersystems nach der großen Reform von 1991 zu fordern. Eine solche, auch schon vom Wirtschafts- und Sozialrat geforderte Analyse sollte beispielsweise das Verhältnis zwischen der Besteuerung der Unternehmen und der Haushalte sowie zwischen direkten und indirekten Steuern erforschen. Denn nach Berechnungen der Arbeiterkammer blieb der Anteil der direkten Steuern in den letzten 20 Jahren ziemlich konstant, während die Verbrauchsteuern deutlich zunahmen.

Eine Bilanz der 91-er Reform sollte außerdem ergründen, ob die sozialen Begleitmaßnahmen zugunsten der Bezieher niedriger Einkommen die versprochene Wirkung zeigten. Aber auch neue Finanzierungsmöglichkeiten und die Nutznießer der Sozialtransfers sollten untersucht werden.

Der Vorschlag der Arbeiterkammer ist um so interessanter, als bereits vor zwei Jahren eine Studie der Sozialtransfers die traditionelle Familienpolitik der CSV in Frage stellte. Doch das neue Koalitionsabkommen erklärte die in den letzten Jahren eingeleiteten Reformansätze, die Umschichtung vom Kinderfreibetrag zum Kindergeld inzwischen für beendet ("RMG für alle Kinder", d'Land 9.10.98).

Überraschend ist deshalb, dass der parlamentarische Ausschuss für die Chancengleichheit von Frauen und Männern unfähig ist, auch nur ein Wort zur Ausrichtung der Steuerreform zu sagen. Dem Umweltausschuss geht es allerdings nicht besser.

Der Staatsrat erinnert daran, dass die Regierung am 12. August 1999 ein Steuerpaket für 2002 versprochen hatte, dem tiefgreifende Überlegungen über Freibeträge, soziale Begleitmaßnahmen und die Einführung des Euro vorangehen sollten. Und er bedauert, dass diese Überlegungen nicht stattgefunden haben, wenn die Steuersenkungen nun vorgezogen werden.

Fast alle Gutachter weisen darauf hin, dass sie bereits in der Vergangenheit gefordert hatten, die für 2002 versprochene Steuerreform früher zu beginnen. Trotzdem sehen sie kaum einen Grund, der Regierung besondere Bewunderung oder Dankbarkeit entgegen zu bringen. Die Handelskammer befürchtet sogar eine konjunkturelle Überhitzung durch die einseitige Nachfrageförderung und verlangt deshalb, dass auch die Senkung der Körperschaftssteuer vorgezogen wird.

Die Staatsbeamtenkammer hält vielmehr dem Finanzminister vor, zu verschweigen, um wieviel die Steuern gesenkt würden, wenn die Steuertabelle ganz einfach an den Index angepasst würde, so wie es Artikel 125 des Einkommenssteuergesetztes vorsieht. Dagegen wartet die Privatbeamtenkammer gar nicht auf die Antwort des Finanzministers, sondern rechnet vor, dass die zehn Milliarden Mindereinnahmen der Reform von 2001 der angehäuften Mehrbelastung der Steuerzahler entsprechen, seit die Steuertabelle nicht mehr an die Inflation angepasst wurde.

Die Privatbeamtenkammer erinnert nämlich daran, dass bis 1995 die Steuertabelle in der Regel jährlich an den Index angepasst worden sei. Ab 1996 habe die Regierung dann das Gesetz geändert, so dass sie nur noch zu einer Anpassung verpflichtet sei, wenn der Index innerhalb eines Jahres um mehr als 3,5 Prozent steige. Da in den heutigen Zeiten der Niedrigstinflation die Preisentwicklung jedoch jährlich unter 3,5 Prozent liege, sei die Regierung überhaupt nicht mehr zu Anpassungen verpflichtet, beziehungsweise könne diese willkürlich vornehmen.

1998 sei es außerdem zu einer regelrechten Zäsur gekommen, da die Regierung inzwischen zum zweiten Mal die Steuertabelle nicht mehr linear an die Inflation anpasse, sondern stattdessen erneut die Struktur  der Tabelle verändere. Dadurch gehe jedoch die Transparenz bei der Einschätzung der Inflationsauswirkungen auf die Steuertabelle verloren. Hinzu komme, dass die meisten Abschläge und Freibeträge sogar seit der Reform von 1991 nicht mehr an die Inflation angepasst worden seien, so dass der Steuerdruck für die Lohnabhängigen zusätzlich gestiegen sei. Auch durch die wiederholte Senkung des Höchststeuersatzes hätten die Freibeträge und Abschläge an Wert verloren.

Die Privatbeamtenkammer weist darauf hin, dass der Unterschied zwischen Eingangssteuersatz und Höchststeuersatz von 1 zu 4,9 auf 1 zu 3,5 so verengt werden soll, dass vor allem die mittleren Einkommen, besteuerbare Einkommen zwischen 90 000 und 220 000 Franken, die Progression der Steuertabelle zu spüren bekommen. Der so genannte Mittelstandsbuckel wächst. Die vorliegende Reform sei deshalb deutlich weniger vorteilhaft für die Bezieher mittlerer Einkommen, heißt es.

So wenden die wichtigsten Gutachter ihr Interesse bereits der Steuerreform von 2002 zu. Dabei rät der Staatsrat der Regierung, endlich Klarheit über die Abschaffung der Gewerbesteuer zu schaffen, um den schädlichen politischen und wirtschaftlichen Spekulationen ein Ende zu machen.

Die Handelskammer und die Handwerkerkammer wissen schon, was sie wollen. Sie machen textidentische Vorschläge zur Ersetzung der Gewerbesteuer durch eine kommunale Zusatzsteuer auf den Einkommen aller Gemeindebewohner. Das heißt, die derzeit von den Unternehmen aufgebrachte Gewerbesteuer soll teilweise auf die Haushalte abgewälzt werden. Was die Arbeiterkammer wiederum für völlig unannehmbar hält.

Darüber hinaus entstehende Gewerbesteuerausfälle müssten nach Meinung der Handelskammer auch von den Gemeinden getragen werden, die so insbesondere beim Bau von Freizeit- und Kultureinrichtungen vor ihre Verantwortung gestellt werden müssten, da diese Infrastrukturen nicht den Unternehmen nützten. Berücksichtigt gehöre auch, dass durch die Abschaffung der absetzbaren Gewerbesteuer die Besteuerungsgrundlage erweitert werde.

Die gut informierte Staatsbeamtenkammer hat erfahren, dass die Regierung derzeit studieren lässt, ob nicht die einzelnen Höchstgrenzen der Abschläge und Freibeträge 2002 abgeschafft und diese in einem Gesamtbetrag zusammengefasst werden sollen, den die Steuerzahler nach ihrer Wahl dann auffüllen können. Da die derzeitigen Abschläge und Freibeträge aber sehr unterschiedlich sind und sehr unterschiedliche Berechtigungen haben, warnt die Berufskammer vor ihrer Vereinigung in einem einzigen Gesamtbetrag ohne Rücksicht auf die Art ihrer Ausgaben. Denn die Vermengung von Arbeitnehmerfreibeträgen mit den Höchstbeträgen für Bauspar- und Versicherungskosten beispielsweise würden verschiedene Grundprinzipien des Steuerwesens aufgeben und die Möglichkeit zu Missbräuchen bieten, welche der Steuergerechtigkeit widersprächen.

Während die Handelskammer findet, dass die Einführung eines Gesamtfreibetrags die individuelle Gestaltung der Lebenszyklen der Steuerzahler erleichtere, befürchtet die Privatbeamtenkammer eine Benachteiligung der Bezieher niedriger Einkommen, insbesondere wenn es um Ausgaben gehe, die deren Zukunftsplanung betreffen, wie Versicherungen und Bausparen.

Die Handelskammer und die Privatbeamtenkammer schlagen vor, dass vor jeder Entscheidung eine kritische Analyse der Abschläge und Freibeträge unternommen wird. Allerdings sollten nach Meinung der Privatbeamtenkammer dabei weder die Unternehmen und Selbstständigen noch bei Bedarf die Schaffung neuer oder anderer Abschläge und Freibeträge von vornherein ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang fordert die Handelskammer einen Pauschbetrag, um ausländische Spezialisten nach Luxemburg zu locken.

Die Privatbeamtenkammer verschließt sich der Verschmelzung einzelner steuerlichen Absatzmöglichkeiten nicht, etwa für Lebensversicherungen und Zusatzpensionen oder für audiovisuelle und Risikoinvestitionen mit der Loi Rau. Sie rechnet aber vor, dass die Abschaffung der gängigen Abschläge und Freibeträge für lohnabhängige Ehepaare bei mittleren Einkommen dazu führte, dass der Nutzen des gesenkten Spitzensteuersatzes neutralisiert oder gar zur zusätzlichen Belastung würde. Allgemein hält die Privatbeamtenkammer aber Steuerkredite für sozial gerechter.

Die Privatbeamtenkammer schätzt, dass bis zu 30 Prozent und nach der Reform bis zu 40 Prozent der Haushalte aufgrund ihrer niedrigen Einkommen oder ihrer Kinderzahl keine direkten Steuern zahlen. Dabei erörtert sie nicht das so entstehende politische Legitimationsproblem - schließlich entstand die parlamentarische Demokratie als Bewegung von Steuerzahlern, die über die Verwendung ihres Geldes entscheiden wollten. Doch weist sie auf ein anderes gravierendes Problem hin: den "Riss der sozialen Symmetrie", der dadurch entsteht, dass ein wachsender Teil der Leute von allen Steuersenkungen ausgeschlossen ist.

Während sich die Arbeiterkammer auch mit sozialen Kompensierungsmaßnahmen, wie der Erhöhung von Kindergeld und RMG zufrieden gäbe, die nur einzelne Bevölkerungsgruppen träfen, schlägt die Privatbeamtenkammer nicht nur die Einführung einer Negativsteuer vor, sondern versucht, mit konkreten Beispielen deren technische Machbarkeit zu beweisen. Dem Eingangssteuersatz sollten zwei negative Stufen vorgeschaltet werden: Zwischen 0 und 60 050 Franken soll in der Klasse 2 das Einkommen um monatlich 3 450 Franken erhöht werden. Zwischen 60 051 und 71 550 Franken soll es um 30 Prozent der Differenz zwischen dem Einkommen und dem angepassten Eingangssteuersatz von 71 550 Franken erhöht werden.

Die Idee einer Negativsteuer ist nicht neu. Der LAV hatte sie schon in den Sechzigerjahren und machte sie zu einer seiner Kernforderungen am 9. Oktober 1973, auch im 94-er Wahlprogramm der DP tauchte sie auf. Neu ist vielmehr das Missverständnis, das um eine Negativsteuer herrscht, die seit einigen Jahren von rechts und links vorgeschlagen wird. Während für die Gewerkschaften eine Negativsteuer dazu dient, ihre zumindest in der Klasse 2 mehr als erfüllte Forderung nach der Steuerentlastung der niedrigen Einkommen weiter zu führen, ist für andere die Negativsteuer ein Mittel, um das Niveau der Niedriglöhne zu senken und die bestehenden sozialstaatlichen Transfers überflüssig zu machen.

Gleichzeitig schlägt die Privatbeamtenkammer vor, die Familienzulagen und Kinderfreibeträge abzuschaffen und durch ein zu versteuerndes und sozialabgabenpflichtiges Einkommen für Familienlast (revenu pour charge de famille, RCF) zu ersetzen. Dieses hätte die Vorteile, dass die relative Benachteiligung von Familien mit niedrigen Einkommen vermindert würde und ein Beitrag zur Individualisierung der Sozialversicherungsrechte geleistet werden könnte. Auf der anderen Seite ähnelt er aber dem von konservativen Kreisen geforderten Hausfrauenlohn, mit dem Frauen dafür belohnt werden sollen, wieder das Heimchen am Herd zu spielen.

Romain Hilgert
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