In Sassenheim unterstützt ein spezieller Dienst förderungsbedürftige Schulkinder. Das Unterrichtsministerium will solche Parallelstrukturen abschaffen

Wenn Hilfe naht

d'Lëtzebuerger Land du 14.10.2011

Der Pausengong schellt. Türen werden aufgerissen. Eine bunte Kinderschar ergießt sich in die Flure, rennt lachend und lärmend durch das Treppenhaus in den Schulhof.Mathieu* ist nicht dabei. Er wartet an der Hand zweier Mitschüler und beobachtet aus großen Augen verunsichert das hektische Treiben. Mathieu ist Autist. Seine Eltern haben ihn aus dem Zentrum für Autisten herausgenommen, um ihn in der Regelschule unterbringen. In der Hoffnung, er könnte dort besser lernen.

Roland Anen und Cheryll Scheiwen sind vom Service Specific Learning Differences der Gemeinde Sassenheim. Sie sind an diesem Tag in die Schule gekommen, um Mathieu im Unterricht zu beobachten. Erst wenn sie sich ein genaues Bild von seinen Stärken und Schwächen gemacht haben, werden sie, gemeinsam mit dem Klassenlehrer, dem Lehrerteam vor Ort und der Inspektorin entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen Mathieu bleiben kann. „Es sieht schon jetzt so aus, als bräuchte er Hilfe rund um die Uhr“, sagt Scheiwen. 

Mathieu ist ein Härtefall. Dass Autisten am Regelunterricht teilnehmen, kommt nicht so häufig vor. Eher sind es andere Auffälligkeiten, warum Lehrer sich an den SLD wenden. „Das kann wegen eines aggressiven Schülers sein, aber auch wegen Lernschwierigkeiten, Wahrnehmungsdefiziten oder weil zuhause etwas nicht klappt“, so Scheiwen. Fällt einer Lehrerin ein Kind auf, kann sie es beim SLD melden. Dort kümmert sich dann Fachpersonal um das Kind und, das ist das Besondere, interveniert gegebenenfalls direkt in seiner Schule.

„Die Initiative entstand vor mehreren Jahren“, erinnert sich Grundschullehrer Roland Anen, Mitbegründer des SLD. „Ich war frustriert, weil ich Kinder mit größeren Problemen meist nur wieder an andere externe Dienste schicken konnte.“ Die Folge: Kinder verschwanden aus der Regelschule, und wenn sie zurückkamen, fiel die Wiedereingliederung oft schwer. „Die betroffenen Lehrer bekamen häufig nur allgemeine Ratschläge und wenig konkrete Hilfen mit auf den Weg.“ Gemeinsam mit der Schulinspektorin Jeanne Letsch entwickelte Anen ein Konzept.

Hauptanliegen: Bedürftige Kinder sollten schnell und möglichst, ohne die Schule und die Klasse verlassen zu müssen, Hilfe erhalten. Lieber noch ist Inspektorin Letsch, wenn die Schulen bedürftige Kinder im Unterricht auffangen, durch differenzierte Lernangebote, wie beispielsweise im vierten Zyklus der Schule Beler Post. Dort werden Schüler mit Schwierigkeiten auch mal getrennt von ihren Klassenkameraden betreut, Team-Teaching und individualisierter Unterricht machen es möglich. Wo das nicht geht, greifen andere Fördermaßnahmen, Hilfen, die, soweit möglich, aus dem direkten Umfeld der Schule kommen.

Im Konzeptpapier zu Specific Learning Differences stehen Begriffe wie „école pour tous“, aber auch „Inklusion“ und „Differenzierung“; statt von „Behinderungen“ oder „Defiziten“ ist dort von „Differenzen“ die Rede. Das Konzept kam an: bei der rot-grünen politischen Führung, in der Schulkommission, aber auch beim Comité de cogestion, das dem Projekt seine volle Unterstützung zusicherte. Das war 2007, noch bevor das neue Schulgesetz kam – und mit ihm die Kontingente und die Équipes multiprofessionelles (EMP) der Éducation différenciée

„Die Équipes multi reichen hinten und vorn nicht und können nicht daasselbe leisten“, betont Cheryll Scheiwen. Die gelernte Sozialpädagogin koordiniert den SLD-Dienst. Zwei so genannte „assistance en classe“ und rund 34 Stunden für die EMP, sagt Scheiwen, stünden Schifflingen und Beles laut Kontingent zu. Das Ministerium spricht von 50 Stunden. Egal, ob 34 oder 50 Stunden: Bei 1 500 Schüler in einer Region, die bekannt dafür ist, dass dort viele einkommensschwache Familien leben, kann die Rechnung nicht aufgehen. „Wir brauchen mehr Ressourcen“, unterstreicht Scheiwen. 

Immerhin: Dank der rund 15 Fachkräfte des SLD, allesamt mit Zusatzausbildungen, kommen mehr Kinder in den Genuss einer speziellen Förderung. Rund 150 Anträge hat Cheryll Scheiwen seit vergangenem Schuljahr bearbeitet. Mal reichten eine Unterredung mit dem Klassenlehrer, ein stärker auf die Bedürfnisse des Schülers zugeschnittenes Lernprogramm oder einige Stunden Wahrnehmungstraining. Manchmal aber muss ein Kind zeitweise aus seiner Klasse herausgenommen werden, bekommt logopädische Hilfen oder eine Therapie. Gemeinsam mit den Lehrern undEltern erstellt Scheiwen einen Förderplan, der von der Inspektorin abgesegnet wird. Dass Jeanne Letsch ein solches Expertenteam aufbauen konnte, war möglich, weil Erzieher bereit waren unter anderem Statut zu arbeiten, und „weil die Gemeindeführung das Projekt voll unterstützt“, betont Letsch erfreut. 

Was eine sinnvolle Initiative zu sein scheint, eckt im Unterrichtsministerium aber an. „Wir machen uns Sorgen, dass dort Parallel-Strukturen entstehen“, sagt Marianne Vouel, Leiterin der Abteilung Éducation différenciée vorsichtig. Beles ist nicht die einzige Region, in der Inspektorat und Schulen andere Wege gehen. In Bettemburg existiert ein ähnliches Projekt, um die wachsende Zahl von Schülern mit spezifischen Bedürfnissen besser zu betreuen. Niederkerschen und Monnerich haben ebenfalls Interesse am Sassenheimer Modell bekundet. „Die Nachfrage ist da“, weiß Inspektorin Letsch. Beim Ministerium hatte sie eine Orthophonistin beantragt für Schüler mit Sprechschwierigkeiten, jedoch ohne Erfolg. Ihr Distrikt sei verhältnismäßig gut versorgt, so die Antwort.

Dabei würde das Ministerium wahrscheinlich kaum verneinen, dass es landesweit an Ressourcen zur Förderung mangelt – und trotzdem reibt man sich am Sassenheimer „Sonderweg“. Schließlich hatte die sozialistische Ministerin die Zentralisierung der Personalplanung damit begründet, die Versorgungsschieflage zwischen den Gemeinden mildern zu wollen: Reichere Gemeinden konnten ihren Einwohnner bessere Förderangebote machen, hatten teils deutlich mehr Personal zur Verfügung als finanz-ärmere Kommunen. Kontingente und zentral festgelegte Klasseneffektive sollten diese Ungleichheiten beheben; ein sozialer Schlüssel sollte dafür sorgen, dass auch Schulen in ärmeren Regionen ausreichend Lehr- und Fachpersonal zur Verfügung stehen. Dafür wurden nicht zuletzt die Équipes multiprofession-nelles regional zugeteilt und in das Kontingent integriert. Die Frage ist nur: Funktioniert das und ist der zentralisierte Weg wirklich der beste, um den Betroffenen zu helfen? 

Nein, fanden Lehrer, im Rahmen des Schulentwicklungsplans zu den EMP gefragt, aber auch Inspektoren. Ihr Einwand gegen das bestehende System: zu schwerfällig, zu bürokratisch, oft zu spät und dazu noch weit weg vom eigentlichen Einsatzort, der Schule. Die Distanz schaffe Probleme bei der Kommunikation und Abstimmung. Dahinter stehen nicht selten Kompetenzkonflikte und unterschiedliche Kulturen: Lehrer, die zunehmend in Teams arbeiten und sich absprechen, erleben die Expertenkultur der Équipes multiprofessionnelles als schwerfällig und undurchsichtig. In manchen Gemeinden klappt die Zusammenarbeit der Akteure besser, andere tun sich damit schwerer. Eine Kritik aber hört man immer wieder: Die EMP kämen zu sehr von außerhalb und würden die Abläufe in den Schulen oft nicht kennen. 

Wenn sie denn kommen. Zum Beobachtung von Mathieu, obwohl von der zuständigen medizinisch-psychologischen Kommission anberaumt, erscheint niemand von der EMP und auch den der Commission d‘inclusion scolaire vorgelagerten Beratungen des Sassenheimer SLD, in dem SLD, Lehrer und Inspektorat über Förderfälle beraten, bleiben sie fern. Wenn sie da sind, bleibt ihr Einsatz oft begrenzt, weil Ressourcen fehlen und selbst die Édiff nicht das nötige Fachpersonal hat und Kinder notgedrungen an andere Dienste weiter vermitteln muss. „Dann fängt alles von vorne an“, seufzt Jeanne Letsch. Viele Eltern aber können es sich finanziell nicht leisten, ihre Kinder nachmittags zum Logopäden zu fahren. Für das betroffene Kind bleibt dann noch weniger Zeit zum Spielen. „Da entsteht eine dritte soziale Schicht“, sorgt sich Letsch.

Und trotzdem soll die Rolle der Édiff aufgewertet werden. Einem Papier, das dem Land vorliegt, zufolge sollen anstelle eines zentralen Verwaltungsapparates regionale Kompetenzzentren entstehen (siehe Randnotiz). In dem Reflexionsdokument ist von „collaboration“ und „concertation accrue“ zwischen Sonderpädagogen und Regelschulen die Rede. In der Vergangenheit war es jedoch eher die Édiff, die sich wiederholt dem Vorwurf von Intransparenz gefallen lassen musste. Das Édiff-Fachpersonal hatte wenig Berührungspunkte mit der Regel-Schulwelt. In Luxemburg gibt es keine sonderpädagogische Ausbildung. Ein objektives Urteil über die Qualität der Hilfsangebote und der Sonderstrukturen war nicht möglich; das Ministerium hat lange nicht danach gefragt. Ein skandalöses Versäumnis, wie Organisationen wie Elteren a Pedagogen fir d’Integra-tioun zu Recht bemängelten. So konnte geschehen, dass Kinder in Centres d’éducation différenciée vernachlässigt wurden, ohne dass die Behörden einschritten.

Inzwischen wurde die Arbeit der Zentren evaluiert, doch auch diese – zum Teil wenig rühmlichen – Ergebnisse sind nicht öffentlich. Aufgrund der festgestellten Mängel wurde investiert: in die Ausbildung, in die Professionalisierung der Hilfsangebote. Aber selbst wenn nun Qualitätsstandards für die Betreuung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen existieren und wohl weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass bestimmte „Unterschiede“ sonderpädagogischen Fachwissen benötigen, bleibt die Frage, wie man dieses am besten organisiert. Geht es nach der Édiff  soll künftig ein Système de compétences en pédagogie spéciale (Sycpos) seine Ressourcen den Regelschulen zur Verfügung stellen. Dafür würde sämtliches Fachpersonal – Sonderpädagogen, Orthophonisten, Logopäden, Psychologen – nach einem regionalen Schlüssel sonderpädagogischen Kompetenzzentren zugeordnet. Projekte wie in Sassenheim stehen damit in Frage. 

Mathieu hat besonderen Betreuungsbedarf. Um seine Windeln zu wechseln, ist er auf Hilfe angewiesen. Ob diese von einem Sycops geleistet würde oder von einem SLD-Dienst ist ihm und seinen Eltern vielleicht egal. So lange Hilfe da ist – wenn er sie braucht.

 

* Name von der Redaktion geändert
Ines Kurschat
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