Dass der Streit ums Fach „Leben und Gesellschaft“ ungebremst anhält, hat sich Claude Meisch selbst zuzuschreiben. Denn ein zentrales Versprechen hat der Schulminister nicht eingelöst

Ungenügend

d'Lëtzebuerger Land vom 05.02.2016

Es ist ein letzter Versuch, den Rahmenplan des geplanten Kurs „Vie et Société“ zu verhindern oder doch zumindest in seinem Sinne zu beeinflussen: Am Dienstag stellte der Cercle de coopération des associations laïques (CCAL) ein eigenes didaktisch-methodisches Konzept für einen neutralen Werteunterricht vor. „Es ist ein schlüssiges Konzept mit klarer Didaktik und Methodik“, bewirbt Sprecherin Monique Adam den zwölfseitigen Vorschlag. „Wir bekämpfen Religionen nicht“, fügt Patrick Arendt hinzu. Es gehe vielmehr darum, den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Religionen seien eine Anschauung unter vielen. Das Ironische an dem Vorstoß: Wie der Conseil des cultes, die Plattform der sieben staatlich anerkannten Religionen, berufen sich auch die Laizisten auf den Europarat – und doch könnten ihre Positionen nicht unterschiedlicher sein.

Der Conseil des cultes hatte am Dienstag zuvor sein Gutachten zum Rahmenlehrplan für das neue Fach veröffentlicht, das ähnlich ablehnend ausfällt. Anders als die laizistischen Organisationen beanstanden die Religionsvertreter jedoch auf zehn Seiten, dass in dem im November publizierten Rahmenlehrplan zu wenig Religion vorkomme, nur 14 Prozent der aufgelisteten Themen hätten einen unmittelbaren Bezug zur Religion. In der Grundschule sei gar „jegliche Darstellung der Religionen“ ausgeschlossen, eine Behauptung, die Claude Meisch zurückweist.

Zwei Lager, zwei Ansichten, die nicht gegensätzlicher sein könnten. Nur in einem Punkt sind sich alle einig: Sowohl die nicht-religiösen Vertreter als auch die religiösen kritisieren die „ungenügende Kommunikation“ des Ministers scharf. Meisch hatte versprochen, alle Beteiligten im Abstand von drei Monaten, über den Fortgang der Beratungen zu informieren. Eine Arbeitsgruppe, paritätisch zusammengesetzt aus Religions- und Morallehrern, sollte mit Koordinator Jürgen Oelkers aus der Schweiz einen Rahmenlehrplan erstellen. Trotz wiederholter Nachfragen wurden jedoch weder der Conseil des cultes, noch die Laizisten oder andere Organisationen bis November zu einem Gespräch eingeladen.

Meisch hatte außerdem zugesagt, neben dem vom Ministerium angeheuerten Bildungsforscher Jürgen Oelkers von der Universität Zürich, zwei unabhängige Sachverständige zu Rate zu ziehen: Joachim Kalcher, Philosophielehrer aus Köln, sowie Daniel Bogner, Theologe an der Universität Fribourg, sollten den Diskussionen in der Arbeitsgruppe mit ihrem Sachverstand zur Seite stehen. Doch was von den Sachverständigen zurückbehalten wurde, bleibt fast ein Jahr nach Beginn der Beratungen weiter unklar: Ihre Stellungnahmen sind geheim. Nicht einmal die Abgeordneten der Bildungskommission kennen sie. Er sehe keinen „Mehrwert“ in einer Veröffentlichung, so Meisch am Donnerstag auf einer Pressekonferenz. Er händigte den Journalisten lieber eine – bereits bekannte – Chronologie der Ereignisse sowie einen Zeitplan aus. Wichtig sei, dass mit dem Rahmenlehrplan vom 13. November „der letzte Stand der Arbeitsgruppe“ veröffentlicht worden sei.

Schon im November hatte Jean-Marie Kieffer, Religions- und Musiklehrer und Leiter der Abteilung Innovation und Recherche im Service de coordination et de la recherche pédagogiques et technologiques, über den Rahmenlehrplan gesagt, die Arbeitsgruppe sei „für den ganzen Inhalt verantwortlich“. Diese Darstellung bestätigte Berater Jürgen Oelkers diese Woche im Luxemburger Wort: Zwar sei es am Anfang etwas mühsam gewesen, „miteinander auszukommen“. Dann aber habe man sich „doch zusammengerauft und ist zu einem Ergebnis gekommen“.

Komisch nur, dass Mitglieder aus der Arbeitsgruppe dies weit von sich weisen würden. Im Sommer kursierten Gerüchte, dass es in der Arbeitsgruppe unüberbrückbare Meinungsdifferenzen gab und dass diese der eigentliche Grund dafür seien, warum Minister Meisch den Termin für die Vorstellung des Rahmenlehrplans nach hinten verlegt hatte. Was sich genau zugetragen hat, bleibt im Nebel: Die Sitzungsprotokolle sind nicht öffentlich und die Mitglieder bekamen vom Ministerium einen Maulkorb verpasst. Aus Angst, disziplinarisch belangt zu werden, schwiegen sie.

Doch mit der Veröffentlichung des Rahmenlehrplans hat der Minister Mitgliedern der Arbeitsgruppe vor den Kopf gestoßen. Dem Land liegt ein Dokument vor, wonach der Lehrplan, entgegen den Beteuerungen des Ministers, eben nicht im Konsens entwickelt worden sei. Er entspreche auch nicht dem pädagogischen Konzept, das Philosophie- und Religionslehrer in der Arbeitsgruppe gemeinschaftlich entwickelt haben sollen. Die Angabe des Ministers, der Plan werde von den Religions- und den Philosophielehrern getragen, sei also schlicht falsch.

Auf Nachfrage des Lëtzebuerger Land erklärte der Koordinator der Arbeitsgruppe Jürgen Oelkers: Man habe ein „pädagogisch-didaktisches Konzept“ entwickelt und dies dem Ministerium übergeben. Das sei dort überarbeitet worden. Allerdings sei „von Anfang an geplant“ gewesen, dem Ministerium lediglich „fachlich zuzuarbeiten“. Sein Kommentar zum Lehrplan: „Wenn beide Seiten unzufrieden sind, haben wir es wahrscheinlich nicht falsch gemacht.“ Oelkers zufolge wurde über die Gutachten der unabhängigen Sachverständigen in der Arbeitsgruppe „mehrere Stunden diskutiert“ und sie sind in das Schlussdokument eingeflossen. Doch die Sachverständigen wurden von der Arbeitsgruppe gar nicht angehört. Vom Land kontaktiert, bestätigt Daniel Bogner per E-Mail, er habe im Laufe der Monate zwei schriftliche Stellungnahmen verfasst. Wie diese in das Rahmendokument eingeflossen seien, wisse er nicht. Allerdings begrüßt der Theologe den Rahmenlehrplan als eine „valide und geeignete Grundlage“. Bogner plädiert dafür, dem Fach „eine Chance“ zu geben und sich darauf „ein(zu)lassen“.

Joachim Kalcher hatte seinerseits ein Gutachten zum Document-cadre erstellt. Das Document-cadre sollte den politischen Rahmen für den Lehrplan setzen. Allerdings kritisieren sowohl der Conseil des cultes als auch die Laizisten, dass das Programme-directeur von eben diesen Prämissen abweiche. Ein Gutachten zum Lehrplan selbst habe das Ministerium nicht mehr angefragt, so Kalcher auf Nachfrage, der seine Überlegungen dann eben unaufgefordert schickte. Wo diese Gutachten geblieben sind, und ob Überlegungen von ihm aufgegriffen wurden, weiß Kalcher nicht: Sein Arbeitsvertrag wurde vor drei Wochen gekündigt. In seinem vierseitigen Gutachten, das dem Land vorliegt, hatte Kalcher unter anderem bemängelt, den „christlich-jüdischen Traditionen“ würde ein privilegierter Zugang gewährt, und deshalb vermutet, „dass dem Staat weltanschauliche Neutralität doch wohl nicht grundlegendes Prinzip ist“. Gegner des Lehrplans sagen nun, das Gutachten sei deshalb so geheim, weil es zu kritisch ausgefallen sei.

Minister Meisch räumte am Donnerstag ein, dass es „viel Misstrauen“ gibt, er hielt aber daran fest, die Beratungen mit einer „gewissen Transparenz“ und im „Dialog“ geführt zu haben. Doch auch der Conseil des cultes ärgert sich, nicht schon früher angehört worden zu sein. Fest steht, dass der Minister eine andere Vorgehensweise versprochen hatte. Fest steht auch, dass der jahrhundertealte Machtkampf um den Einfluss der Religionen auf die öffentliche Schule weiter geht und auch mit der Konvention zur Trennung von Staat und Kirche längst nicht vorbei ist.

Und dennoch: Trotz dieser fundamental gegensätzlichen Sichtweisen war es der Arbeitsgruppe aus Religions- und Philosophielehrern gelungen, zu einem Kompromiss zu kommen. Bloß: Was ist mit ihrem Papier geschehen? Und was hatte das Ministerium daran auszusetzen? Weil die Beratungen hinter verschlossenen Türen stattfanden, wissen nur Insider, was genau vorgefallen ist. Für Mitglieder der Arbeitsgruppe ist das bitter: Sie fühlen sich über-, sogar hintergangen, denn der Minister verkauft jetzt etwas als ihren Konsens, was nicht ihr Konsens ist. Und die Öffentlichkeit hat keine Möglichkeit, die offizielle Darstellung zu überprüfen.

Entsprechend empört ist die Stimmung bei den Betroffenen, die hinter vorgehaltener Hand von „Mauscheleien“ und „einem abgekarteten Spiel“ sprechen. Das ist gefährlich, denn der Minister ist bei der Umsetzung der Reform auf die Lehrer angewiesen. Mit seiner Intransparenz und seiner Taktiererei riskiert der Minister, weiter Glaubwürdigkeit zu verspielen, die er dringend braucht, und er hat zudem Verschwörungstheoretikern neue Nahrung geliefert. Daran ändert sein Gang vor die Presse nichts.

Nicht einmal das Parlament ist im Bilde: Laut Martine Hansen von der CSV gab es seit der Vorstellung des Rahmenlehrplans im Bildungsausschuss „keine weiteren Diskussionen“. Auch Taina Bofferding vom Koalitionspartner LSAP muss bei Detailfragen passen: So soll die Arbeitsgruppe um Jürgen Oelkers um weitere Didaktiker erweitert werden. Wen das Ministerium hinzugeladen hat, weiß die LSAP-Abgeordnete aber nicht. Ebenso wenig vermag sie zu sagen, welches Profil Lehrer künftig haben müssen, die das Fach unterrichten wollen. Laut Meisch soll eine 16-stündige Fortbildung, beginnend im Juni 2106 am Weiterbildungszentrum Ifen in Walferdingen, sicherstellen, dass die aktuellen Moral- und Religionslehrer den Kurs unterrichten können. Aber welche Regeln werden für die Neueinstellung weiterer Fachlehrer gelten? Laut Bofferding werde „man kaum verbieten können“, dass auch in Zukunft Theologen das Fach halten. Wichtige Fragen, deren Antworten ausstehen. Der Déi-Gréng-Abgeordnete Claude Adam sagte dem Land, man habe sich auf einer interfraktionellen Sitzung vor über einer Woche, „so ziemlich über alles ausgetauscht“. Konkretes wollte der bildungspolitische Sprecher nicht sagen, er verwies auf den zuständigen Minister.

Der sagte auf der Pressekonferenz zu, dass religiöse wie nicht-religiöse Vertreter jeweils Dokumente zusammenstellen können – so als sei das immer schon sein Plan gewesen. Viel plausibler ist, dass Meisch von Anfang an auf Zeit gespielt hat und er jetzt die kritischste Etappe hinter sich wähnt: In einem Brief, den Meisch am 1. Januar verschickte, also einen Tag vor dem ursprünglichen Termin der Pressekonferenz (die Konferenz wurde um eine Woche verlegt, angeblich wegen einer Formsache, die im Regierungsrat aus Zeitgründen nicht diskutiert werden konnte, d. Red), teilte der Minister den überraschten Vertretern der CCAL mit: „Lors de notre entrevue, nous avons donc convenu de changer la stratégie et d’intégrer davantage la connaissance des courants laïcistes et humanistes dans les canevas du cours Vie et Société“. Der Minister schlägt ein weiteres Treffen „sous peu“ vor, mit dem Ziel, „de créer un groupe de travail commun chargé d’élaborer de la documentation“. Der Conseil des cultes hat ein solches Schreiben nicht bekommen, ihm wurde lediglich zugesagt, „bei religionsspezifischen Fragen herangezogen zu werden“, so Roger Nilles, Pressesprecher des Bistums.

Die Laizisten haben ihre Hausaufgabe im Prinzip erledigt. Neben dem Vorschlag eines eigenen Rahmenlehrplans präsentierten sie diverses Lehrmaterial und Schulbücher für einen wertneutralen Kurs. Auf die Gegenleistung des Ministeriums warten sie noch: endlich Antworten auf drängende Fragen zu bekommen, wie es mit der Arbeitsgruppe weitergeht, wie beispielsweise die Fortbildung der über rund 200 Religions- und Morallehrer konkret aussehen soll, und wie sichergestellt wird, dass das neue Fach wertneutral unterrichtet werde. In Luxemburg gibt es auf der Sekundarstufe keine Schulaufsicht. Es gelte das Überwältigungsverbot, das heißt, Lehrer dürfen Kinder nicht indoktrinieren, so Meisch am Donnerstag. Er sieht die Schulleitungen in der Pflicht, so wie „bei anderen Fächern“ auch und hofft, mit seinem Fach „Brücken“ zu bauen statt „Barrikaden“.

Ines Kurschat
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