Museumsquartier Wien

Fischbauch an flaumigem Barock

d'Lëtzebuerger Land vom 22.03.2001

Alleine die Materialien klingen verheißungsvoll: Muschelkalk. Basaltlava. Das weckt Fantasien von der Weite des Meeres und der Urgewalt ausbrechender Vulkane. Eine hoch gegriffene programmatische Vorgabe für das, was sich im Inneren der geheimnisvollen Bauten ansiedeln wird: Museen werden es sein, die klassische österreichische Moderne von Kokoschka über Klimt bis Schiele hier, internationale Zeitgenossen da. Wie mächtige Burgen stehen sie einander gegenüber, das Leopold Museum und das Museum moderner Kunst Sammlung Ludwig Wien (MMKSLW) und bilden die Eckpfeiler im neu entstehenden Museumsquartier im Herzen Wiens.

Noch ist das gigantische Projekt, immerhin die achtgrößte rein der Kultur gewidmete Baulandschaft weltweit, nicht vollendet. Noch balanciert man über Schotterwege, noch blättert der Putz ab von erst teilweise renoviertem Mauerwerk, noch verbreiten Planen und rotweiße Absperrbänder Baustellen-Atmosphäre. Doch seit Jahresbeginn sind die Gebäude bezugsfertig, und die künftigen Eigentümer haben die leeren Bauten in Besitz genommen. Lorand Hegyi vom MMKSLW, langjähriger Hausherr im Palais Liechtenstein und im Zwanzigerhaus, und der bislang heimatlose Sammler Rudolf Leopold sind als neue Museumsdirektoren emsig dabei, die Innenräume der gewaltigen Bauten zu gestalten.

Mit dem Museumsquartier ist in Wien ein Projekt entstanden, das in der Tat einzigartig scheint, auch wenn "Kulturbezirke" - siehe Berliner Museumsinsel - derzeit aus dem Boden schießen wie Pilze. Was Wien zu einer Besonderheit macht, ist die Verbindung von Alt und Neu, von Barock und Gegenwart. Das riesige Areal, zwischen Hofburg und Biedermeierviertel am Spittelberg gelegen, entsteht durch Renovierung und Umgestaltung der ehemaligen kaiserlichen Hofstallungen. Deren Architekt war kein Geringerer als Barockbaumeister Fischer von Er-lach, dem Wien unter anderen Schloss Schönbrunn und die Karlskirche verdankt. Nach dem kaiserlichen Gestüt fand die Wiener Messe in dem riesigen Ensemble eine vorübergehende Heimat. Als die vor rund 25 Jahren in die Praterauen übersiedelte, stellte sich die Frage der Nachnutzung.

Marode geworden und dringender Renovierung bedürftig, schienen die einstigen Prachtbauten den Kulturverantwortlichen dennoch vielversprechend: 45 000 Quadratmeter Grundfläche, mitten in der Innenstadt, das weckte hochfliegende Träume. Ein Architektenwettbewerb wurde ausgeschrieben, und die Jury entschied sich 1989 für die Pläne des Architektenduos Manfred und Laurids Ortner, die mit der barocken Tradition radikal brechen wollten. Folge war ein empörter Aufschrei von Boulevardpresse bis hin zu vorsichtigen Ministerien. Schließlich sah der erste Plan vor, die historische Bausubstanz völlig der Abrissbirne zu überlassen. Zudem war ein weithin sichtbarer gläserner "Leseturm" geplant, der alle Innenstadt-Bauten überragen sollen - ein Affront in der Stadt, die das bauliche Höhenwachstum traditionell unter Stephansdom-Ausmaße beschränkt hatte.

Was folgte, waren zehn Jahre heftiger öffentlicher Debatten und immer neuer Korrekturen im Siegerentwurf. Doch als dann die Pläne in mehrheitsfähiger Version endlich fixiert waren, dauerte es nur gut drei Jahre vom ersten Spatenstich bis zum Einzug der Besitzer - aller Kritik gegen das "größenwahnsinnige Megaprojekt" und das "halbherzige Sammelsurium" zum Trotz. So ist das Museumsquartier in der jetzigen Form entstanden als sehr wienerische architektonische Melange, die vom Kompromiss zum Programm und schließlich zum überzeugenden Konzept geworden ist. Die von außen sichtbare Front ist komplett in barocker Substanz erhalten und unter Aufsicht des Architekten Manfred Wehdorn nach allen Regeln der Denkmalpflege renoviert worden. Betritt man dann durch das Eingangstor den riesigen Innenhof, präsentiert sich ein reizvoller Stilmix zwischen Historie und Gegenwart.

Zunächst fällt der barocke Querbau der ehemaligen Winterreithalle ins Auge. Deren Fassade ist originalgetreu renoviert und erstrahlt in blendendem Weiß. Rechts davon erhebt sich der gewaltige gewölbte Bau des MMKSLW. In seiner geheimnisvoll archaischen Düsternis wirkt der massive Monolith ruhig und elegant. Er wird ab Herbst die umfangreiche Sammlung Ludwig beherbergen, die bisher auf zwei Häuser verteilt war. Die Kunst des 20. Jahrhunderts soll hier in einer Kombination aus der ständigen Sammlung, die wesentlich von den Namen Gilbert[&]George, Franz West, Bertrand Lavier und Tony Cragg bestimmt ist, und wechselnden Sonderschauen präsentiert werden. 

Dass im Inneren des massiven Blockes, der zwei Stockwerke tief in die Erde reicht, fast ausschließlich Kunstlicht herrschen wird, hat für Direktor Hegyi dramaturgische Gründe: "Wir gehen davon aus, dass es in der Kunst nach 1945 sehr viele Arbeiten gibt, die mit künstlichen Licht operieren bzw. mit der Dunkelheit, oder die eine spezifische Raumsituation brauchen." Die Sammlung wird chronologisch aufgebaut sein und in den Tiefen des Baus, weit unter Eingangsniveau, beginnen. Auf der höchsten Ebene dann, im jüngsten Teil der Sammlung, soll Tageslicht herrschen.

Scheint sich der anthrazitfarbene Monolith des MMKSLW mit seinem gewölbten Rücken gerade erst aus der Erde zu erheben, wirkt der helle Kubus des Leopoldmuseums gegenüber mit seiner seidig-luftig schimmernden Oberfläche wie von der spielenden Gischt an einen Strand geworfen. Hier wird die umfangreiche Sammlung des Kunstliebhabers und Augenarztes Rudolf Leopold eine Heimat finden. Der kunstsinnige Arzt hat mit untrüglichem Gespür für das Wesentliche begonnen, die Klassiker der österreichischen Moderne zu sammeln, als die Schieles, Kokoschkas und Gerstls am Kunstmarkt noch "unter ferner liefen" gehandelt wurden.

Rasch ist eine wertvolle Sammlung gewachsen, die 1994 in Kooperation mit staatlichen Institutionen in ei-ne Stiftung umgewandelt wurde. Sie wird nun im Museumsquartier erstmals in kompletter Zusammenstellung öffentlich zugänglich sein. Die rund 5 200 Objekte sollen auf vier Stockwerken vom 19. Jahrhundert über Jugendstil und österreichische Zwischenkriegszeit bis zum Expres-sionismus führen. Höhepunkt ist Leopolds weltberühmte Schiele-Sammlung. Im ganzen Gebäude regiert helles Tageslicht, das durch ein großzügiges Atrium ins Innere des Kubus fällt.

Zwischen diesen Antipoden er-streckt sich die Winterreithalle, in der ein vielseitiges Nutzungsmenü angerichtet wird. In ihrem Inneren wölbt sich ein stählernes Halbrund wie ein glänzender Fischbauch von oben in den weitläufigen Raum - die Unterseite einer Zuschauertribüne, die schräg in die Halle gesetzt wurde und so den Trakt in zwei getrennt nutzbare Hälften teilt: Im tieferen Teil entsteht eine große Halle für Theater- und Tanzaufführungen, der vordere Teil ist als großzügiger Eingangsbereich mit Shop gestaltet. 

Die sachlich blanke Metalloberfläche bildet dabei einen reizvollen Kontrast zur ehemaligen Kaiserloge, die sich in überbordendem Barock über dem Eingangsbereich erhebt. Wo einst die kaiserliche Familie den Darbietungen der Hofreitschule beiwohnte, werden sich demnächst erholungsbedürftige Museenbesucher auf ihrem Weg von der österreichischen Moderne zu zeitgenössischen Attacken mit Kaffee und Mehlspeisen erfrischen.

Von hier aus gelangt der Besucher in die Kunsthalle, die bisher den provisorischen Container am Karlsplatz bespielt hat. Der hinter der Reithalle gelegene Bau ist in rohem Ziegel gehalten. Diese Nüchternheit, das Unverputzte des Ziegels ist Programm und soll auf das stete Werden, auf das Arbeiten der Gegenwartskunst an sich selbst als "permanenter Baustelle" hinweisen. Im oberen Stockwerk dominieren Sichtbeton und sachlich weiße Wände. 

Die Künstlerin Vanessa Beecroft, die mit ihren Bildern aus lebenden Menschen an die Tradition der Aktmalerei anknüpft, hat der Halle bereits mit der Performance VB 45 symbolische Weihen verliehen. Mit 45 irritierend ähnlich aussehenden Models, nackt bis auf schwarze Schaftstiefel, Body Make-up und blonder Farbe im Haar gestaltete sie ein lebendes Bild, das sich über drei Stunden hinweg langsam veränderte. Der nackte Mensch als Projektionsfläche stößt den Betrachter auf vielfältige Fragen und wurde in diesem offenen, den Betrachter herausfordernden Ansatz zur wunderbaren Metapher dafür, was in dem Raum in Zukunft stattfinden soll.

Nicht nur in der baulichen Gestaltung, auch in seinem Nutzungskonzept verspricht das Museumsquartier eine anderswo kaum anzutreffende Vielfalt. Neben moderner und zeitgenössischer Kunst sollen ein neu geschaffenes Tanzzentrum und die Wiener Festwochen als ständiger Bewohner in das altneue, auf eine Nutzfläche von 66 000 Quadratmeter ausgedehnte Areal einziehen. Ein Kindermuseum und ein Kinder-Theaterhaus sollen ebenso Platz finden wie kulturwissenschaftliche Einrichtungen. Zusätzliche Impulse bezieht der Kulturmagnet durch seine Nähe zum Kunsthistorischen Museum und zum Spittelberg mit seiner lebendigen Lokal- und Galerienszene. 1,1 Millionen Besucher soll das Kulturviertel jährlich anlocken und Wiens Ruf als Kulturstadt nachhaltig festigen. Umgerechnet mehr als fünf Milliarden Franken haben sich die Stadt Wien und der Staat Österreich dieses gigantische Verschmelzen von Alt und Neu kosten lassen. 

Bei aller Euphorie und Einigkeit über das gelungene und international gelobte Projekt wollen wenige Wochen vor der Eröffnung am 28. Juni kritische Stimmen nicht verstummen. Sie sind auch unter den Nutzern zu finden. MMKSLW-Direktor Hegyi etwa hat bereits seinen Rücktritt angekündigt. Er will nur noch den Umzug und die erste Ausstellung betreuen. Für ihn ist die neue Museumslandschaft viel zu sehr ein Prestigeobjekt, das an Disneyland und Eventkultur erinnert. 

Die Crux an der schön restaurierten barocken Fassade: Die finanzielle Unterstützung für die Museen, die dem schmucken Areal Leben einhauchen sollen, wurde von der österreichischen Regierung im Zuge der Teilprivatisierung auf Jahre hinweg eingefroren. Nun sieht sich  Hegyi vor dem Problem, zwar schöne neue Räume zur Verfügung zu haben. In seiner Ausstellungskonzeption aber müsste er, so fürchtet der langjährige Leiter des Hauses, untragbare Kompromisse eingehen. Und Architekt Laurids Ortner hält in Sachen Leseturm das letzte Wort für noch lange nicht gesprochen. 

 

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Irmgard Schmidmaier
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