Staatsverschuldung

Die Krisenanleihe

d'Lëtzebuerger Land du 13.08.2009

In seiner Regierungserklärung vor 14 Tagen hatte Premier Jean-Claude Juncker das Land darauf vorbereitet, dass der Staat als Folge der Wirtschaftskrise im Laufe der Legislaturperiode 12 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen könnte. Dann würde die jährliche Zinslast des Staatshaushalts von derzeit 14 Millio­nen auf 427 Millionen Euro, von 0,04 Prozent auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen und jeden finanzpolitischen Spielraum „zerfressen“.

Es ist nicht das erste Mal, dass der Staat Krisenanleihen aufnehmen will. Zuletzt hatte er das in den Achtzigerjahren getan, um die Stahlindustrie vor dem Konkurs zu retten. Seine erste Krisenanleihe hatte der Staat 1916 aufgenommen, und manche Parallelen zu heute sind verwirrend. Deutsche Minister hatten Luxemburg nicht bloß gedroht, ihre Soldaten zu schicken, sondern hatten es auch tatsächlich getan. Es war die Zeit einer tiefen Wirtschaftskrise und des Kulturkampfs zwischen Linksblock und Rechtspartei, wie die CSV damals hieß. Die Großherzogin hatte das Land gerade an den Rand einer Verfassungskrise gebracht, weil sie das von der Rechtspartei bekämpfte Schulgesetz nicht unterschreiben wollte. Zuvor war über Schmalspurbahnen, wie das BTB damals hieß, und Gehälterrevisionen diskutiert worden, auf dem Plateau Bourbon sollte eine Cité judiciaire gebaut werden, die Nationalbibliothek sollte endlich umziehen und der Staat hatte den Grünewald übernommen.

Nach wiederholten Regierungskrisen versuchte 1916 eine große Koalition aus Katholiken, Sozialisten und Liberalen, gegen die Wirtschaftskrise anzugehen. Eine der Folgen der Krise war ein Defizit des Staatshaushalts und eine schwebende Staatsschuld von über 27 Millionen Franken. Das Loch im Staatshaushalt hatte 1914 zwei Mil­lionen, 1915 eine Million und 1916 17,5 Millionen Franken ausgemacht.

Die schwebende Schuld des Staates hatte in den Vorkriegsjahren zugenommen, um die Schmalspurbahnen (6,1 Millionen), öffentliche Arbeiten (8,4 Millionen), eine Gehälterrevi­sion (1,5 Millionen), eine Teuerungszulage (0,5 Millionen) und den Erwerb des Grünewalds (0,6 Millionen) zu finanzieren. Diese kurzfristigen Finanzierungsengpässe überbrückte die Regierung bei der Sparkasse mit Schatzanweisungen.

Der Erste Weltkrieg hatte zudem zur Verknappung und Verteuerung der Lebensmittel geführt, so dass die Regierung eine Teuerungszulage für die Beamten und Angestellten des Staats einführen wollte. Um das Loch im Staatshaushalt zu füllen, die schwebende Staatsschuld zu konsolidieren und die Teuerungszulage zu finanzieren, beschloss die Regierung, eine öffentliche Anleihe aufzunehmen.

In der Geschichte des Großherzogtums hatte der Staat bis dahin dreimal Anleihen aufgenommen: 1858 und 1860, um die Eisenbahn zu bauen, und 1882, um für die Schulden der in Konkurs gegangenen Nationalbank aufzukommen. Bis dahin war eine Staatsanleihe als Mittel angesehen worden, um große öffentliche Bauvorhaben zu finanzieren. Nun wollte die Regierung erstmals Geld leihen, weil der Staatshaushalt defizitär war. Um sich gegen befürchtete Vorwürfe zu wappnen, wollte sie mögliche Kritiker nicht nur überzeugen, dass es in Kriegs- und Krisenzeiten gerechtfertigt sei, „einen Teil des Defizits den kommenden Generationen aufzubürden“, wie Léon Kauffman, der Generaldirektor – der Minister – der Finanzen, vor dem Parlament erklärte.

Die Regierung wollte auch den Nachweis erbingen, dass die Volkswirtschaft durchaus in der Lage sei, eine Anleihe über 25 Millionen Franken zu verkraften. Schließlich entsprach dies fast den Gesamteinnahmen des Staatshaushalts von 26,5 Millionen – während die Ausgaben erschreckende 44 Millionen betrugen. Das war aber nicht so einfach, denn hierzulande, wie auch in den meisten anderen Staaten, gab es noch keine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, kein Bruttsozialprodukt und kein Nationaleinkommen, an denen man die Anleihe messen konnte.

Deshalb bat der parlamentarische Berichterstatter, Léon Laval, den Ingenieur Michel Ungeheuer, nach dem Vorbild der Pioniere in Groß­britannien, Deutschland und Frankreich, das Luxemburger Volksvermögen abzuschätzen. Ungeheuer lieferte im Sommer 1916 der Zentralsektion der Kammer einen Bericht und erklärte seine Vorgehensweise gleichzeitig in einer Broschüre Eine Abschätzung des Volksvermögens im Großherzogtum Luxemburg, die er im Verlag des Verbandes der demokratischen Vereine veröffentlichte. Sie machte ihn zum Pionier der volks­wirtschaftlichen Gesamtrechnung hierzulande.

Mangels anderer Daten schätzte Michel Ungeheuer vor allem auf der Grundlage der verschiedenen Steuereinnahmen das „Gesamtvermögen des Luxemburger Landes“ ab. Er errechnete: bebautes und unbebautes Grundeigentum von 1 600 Millionen Franken, staatlichen und privaten Bergwerkbesitz von 687,5 Millionen Franken, Kapitalvermögen – von Aktien über Sparguthaben und Hausrat bis zum Viehbestand – von 1 157 Millionen, Staatsvermögen von 250 Millionen Franken und Gemeindevermögen von 65 Millionen Franken. Alles in allem also 3 759,5 Millionen Franken Volksvermögen.

Ungeheuer verglich seine Schätzun­gen aber auch mit dem Nettovolksvermögen pro Kopf der Bevölkerung in den drei anderen Ländern, die Pioniere der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung waren, und kam auf 4 394,30 Mark für Deutschland, 5 188,20 Mark für Frankreich, 5 473,00 Mark für England und 11 484,50 Mark für Luxemburg. Was ihn zur Schlussfolgerung brachte: „Das Großherzogtum Luxemburg steht also in jeder Beziehung am günstigsten da.“

Wiederum auf der Grundlage der Steuereinnahmen schätzte er nebenbei auch das Volkseinkommen in Luxemburg, „was auf den Kopf der Bevölkerung 961,50 Fr. ausmacht, während das Volkseinkommen in Deutschland sich nur auf 600 Mk. oder 750 Fr. pro Kopf der Bevölkerung beläuft.“ Dafür, dass das Großherzogtum bereits lange vor dem Entstehen des Finanzplatzes zu den wohlhabendsten Staaten gehörte, sollte der Abgeordnete Léon Metzler übrigens eine ganz einfache Erklärung finden: „Wir sind glücklicherweise kein Militärstaat.“

Ungeheuer kommt zu dem Schluss, dass der Staat die geplante Anleihe aufnehme könne, „ohne dadurch das Aktivvermögen des Landes zu stark zu belasten. Wenn man damit die Schulden vergleicht, die die kriegsführenden Länder aufnehmen müssen, so kann hier von einer eigentlichen Belastung noch gar nicht die Rede sein.“

So gab es auch keinen nennenswerten Widerstand gegen die Krisenanleihe. Während der parlamentarischen Debatte Ende Juli 1916 fragte sich sogar der Abgeordnete Jos Thorn, ob man sie nicht „l’emprunt de la victoire de la Na­tion luxembourgeoise“ nennen sollte. Der Politiker für den Escher Kanton wollte sogar den Betrag erhöhen, um Sozialmaßnahmen zugunsten der von der Krise besonders hart getroffenen Arbeiter im Minetterevier zu finanzieren. Aber diese Arbeiter sollten erst drei Jahre später das Wahlrecht erhalten. Deshalb war es dem Redinger Abgeordnete Pierre Schiltz wichtiger, „die Schuldzinsen im Budget herunterzudrücken“.

Am 9. August 1916 verabschiedete das Parlament das Gesetz vom 11. August 1916, das besagt: „Art 1. Die Regierung ist ermächtigt, für Rechnung des Staates eine Anleihe bis zum Betrage von 25 Millionen Franken aufzunehmen, den Franken zu 80 Pfennig umgerechnet. Art. 2. Diese Anleihe soll dienen zur Konsolidierung der schwebenden Schuld, sowie zur Deckung der Ausgabeüberschüsse der Rechnungsjahre 1914, 1915 und 1916, einschließlich der durch die Bewilligung einer Teuerungszulage an die Staatsbeamten und -Angestellten bedingten Ausgabe. Der eventuell noch verbleibende Überschuß wird auf die Deckung eines Teiles der durch die Lebensmittelversorgung erwachsenen Verluste verwandt werden.“

Während der parlamentarischen Debatten hatte der Generaldirektor der Finanzen noch Steuererhöhungen mit dem Einwand abgelehnt, binnen zwei Jahren könnte sich die Lage der Staatsfinanzen vielleicht schon völlig ändern. Doch die Staatsschuld sollte rapide ansteigen. Hatte die durch Anleihen entstandene fundierte Staatsschuld 1915 noch 9,8 Millionen Franken betragen, war sie 1920 bereits auf 123,4 Millionen angestiegen. Die jährlichen Tilgungskosten für den Staatshaushalt waren in derselben Zeit von 1,8 auf 7,5 Millionen Franken gestiegen. Immerhin nur eine Vervierfachung, also kein Vergleich mit einer Verdreißigfachung in den nächsten fünf Jahren.  

Romain Hilgert
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