"Selektive Sozialleistungen"

Steuerkreditwürdig

d'Lëtzebuerger Land vom 29.05.2008

Ein Jahr vor den nächsten Wahlen entdeckt die politische Klasse im Land den Charme „selektiver Sozialleistungen“. Der Staatsminister appelliert in seiner Erklärung zur Lage der Nation an die „Solidarität“ und beschwört die „soziale Kohäsion“. Der CSV-Fraktionssprecher erklärt, „in Steuer- und Sozialpolitik“ komme man nun „weg von einer Politik mit der Gießkanne“. Der LSAP-Fraktionssprecher erinnert sich selbstkritisch, wie „einfach“ die „Gießkannenpolitik“ gewesen sei – früher. Der DP-Präsident plädiert für den „aktivierenden Sozialstaat“. Der Fraktionssprecher der Grünen traut dem ganzen nicht und will erst einmal Zahlen sehen.

Dabei sind die vom Premier angekündigten Maßnahmen nicht allesamt selektiv. Die Erhöhung des Mindestlohns zum 1. Januar 2009 und die geplante Verdoppelung der Heizkostenzulage sind es. Die Rentenanpassung und die erneute teilweise Anpassung der Steuertabelle an die Inflationsentwicklung sind es natürlich nicht. Inwiefern die Ausgabe von Gutscheinen zur Kinderbetreuung es wäre, hängt von noch zu klärenden Detailfragen ab (siehe Seite 9). Die Umwandlung des Freibetrags für Alleinerziehende auf ihrem besteuerbaren Einkommen in einen Steuerkredit ist insofern selektiv, als das Armutsrisiko von Alleinerziehenden besonders hoch ist. Der Ersatz der 600 Euro Arbeitnehmerfreibetrag durch einen Steuerkredit von 300 Euro im Jahr nach dem Vorbild des Kinderbonus ist schon weniger selektiv: Er kommt zwar in erster Linie Geringverdienern zugute, die bisher keine Steuern zahlen. Aber selbst für die unter den Spitzensteuersatz fallenden Steuerpflichtigen ist der Bonus groß genug angesetzt, damit die Steuerschuld, die künftig größer wird, wenn ihr versteuerbares Einkommen um 600 Euro wächst, den Bonus nicht ganz zunichte macht. 

Der Ersatz des Freibetrags für Schuldzinsen auf Immobilienkrediten ist noch weniger selektiv. Letzten Daten nach waren 2004 nur 49 Prozent der einkommensschwachen Haushalte Eigenheimbesitzer, gegenüber 75 Pro­zent der übrigen Bevölkerung, und nur 30 Prozent der damals Arbeitslosen besaßen ein Eigenheim. Hinzu kommt: Angesichts der Grundstückspreislage wird der Zinskredit-Bonus vermutlich schnell vom Markt aufgefressen und bei Wohnungs- und Haus­verkäufen „eingepreist“

.Die Frage, ob all diese Nebeneffekte schon berücksichtigt worden wären, muss offenbar mit Nein beantwortet werden. Nicht nur Grünen-Fraktions­sprecher François Bausch verlangte am Dienstag in der Abgeordnetenkammer bei der Debatte zur Lage der Nation weiteren Aufschluss über die Maßnahmen, auch CSV-Fraktionsprecher Michel Wolter findet, „dass hier aber noch ein paar wichtige Daten fehlen“. Und innerhalb der Regierung wird derzeit noch die nicht ganz unwichtige Frage diskutiert, ob der Steuerkredit, der den Arbeitnehmerfreibetrag ersetzt, nur Arbeitnehmern zugute kommen soll oder auch nicht Berufstätigen. Macht Luxemburg sich am Ende sogar auf den Weg zum bedingungslosen Grund­einkommen? Tja, wer weiß.

Dabei rührt der Ersatz von Steuerabschlägen durch Steuerkredite umso stärker an das grundlegende Zusammenspiel von Steuer- und Sozialsystem, je mehr Abschläge durch Boni ersetzt werden. Der Wirtschafts- und Sozialrat warnte 2004 vor „des effets de seuil ou outres comportant des effets pervers et contre-productifs pour tous“, falls die Regierung schrittweise alle Steuerabschläge abschaffen wollte, wie Finanzminister Juncker schon vor der Steuerreform 2001 angekündigt hatte. Deshalb sei ständig für eine „bonne articulation technique entre fiscalité directe, sécurité sociale, RMG et SSM“, dem sozialen Mindestlohn, zu sorgen. Heute ist es ausgerechnet die Frage, „welche beschäftigungspolitischen Anreize die Steuerkredite gemeinsam mit RMG bilden werden“, die den CSV-Fraktionssprecher umtreibt. „Nicht, dass es uninteressant wird, für den Mindestlohn zu arbeiten.“ Hoffentlich wissen der Finanz- und der Arbeitsminister von der CSV, was sie wollen.

Aber die Kohäsionsmaßnahmen der Regierung sind nicht nur die um ein paar kleine Wahlgeschenke nach der Indexmanipulation angereicherte Kon­sequenz, die aus dem diesjährigen Gutachten des Wirtschafts- und Sozialrats gezogen wird, welches Armut und Armutsrisiken zum Schwerpunktthema hatte.  Sie geben zumindest kurzfristig den Rahmen für eine Abwehr der Staatsbeamtengewerkschaft CGFP mit ihren Forderungen nach einer allgemeinen Gehälterrevision im öffentlichen Dienst her. Das Luxemburger Wort hilft propagandistisch: Es bestehe eine „Versuchung, Lehrerschaft und Staatsbeamten aus elektoraler Räson nachzugeben“, schürte es am Tag der Regierungserklärung in seinem Leitartikel die Spannung. Am Tag danach belehrte es, eine „Umschichtung“ von Haushaltsmitteln sei der „Preis, den man zahlen muss, wenn man mehr Kohäsion wagen“ und „Ausgrenzung und Armut konsequent bekämpfen“ wolle. Dem müsse sich ein „in mancherlei Hinsicht verwöhntes und strukturkonservatives Land stellen“. Am Mittwoch dieser Woche suggerierte es: „Die Sozialpolitik wurde selektiver und soll in Zukunft noch selektiver werden. Das ist ein mutiger Schritt.“ Es wusste aber auch: „Ob er bei den Wahlen in Wählerstimmen umgemünzt werden kann, bleibt abzuwarten.“

Desto notwendiger wäre es eigentlich, dass sämtliche Parteien ausführlich die Wechselwirkungen von Steuer- und Sozialsystem debattieren. Aber das hieße, den „Indexwahlkampf“ vor­zuziehen. Und so erklärt niemand richtig, welche „Selektivität“ künftig gelten soll, und angesichts der vielen Bekenntnisse von CSV und LSAP zu Armutsprävention und Solidarität hat die DP Mühe, mit ihrem Einsatz für die Kaufkraftverbesserung der Mittelschicht als erneuert und fortschrittlich und nicht als die alte Notabelnpartei zu erscheinen.

Zu diskutieren wäre jedoch, ob die Selektivitätskonzepte am Ende auch die klassische Sozialversicherung einschließen sollen. Sozialminister Mars Di Bartolomeo sieht seinen „Ansatz von Solidarität gestärkt wie nie“ nach der Regierungserklärung des Pre-miers: gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen, paritätische Finanzierung mit Beibehaltung einer staatlichen Beteiligung, und wenn es sein muss, maßvolle Eigenbeteiligungen der Versicherten zum Wohle der Solidargemeinschaft.

Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Sozialversicherung in der nächsten Legislatur unter Druck gerät. Zwar stellte in den letzten Debatten um den Staatshaushalt niemand mehr offen den Sozialstaat in Frage, den Budgetminister Frieden 2005 dafür verantwortlich gemacht hatte, dass „Zack!“ die Ausgaben in die Höhe schnellen. Doch der Unternehmenssteuersatz soll von nominal knapp 30 auf 25,5 Prozent sinken. Wie schnell, wird vermutlich erst nach den Wahlen entschieden, der politische Druck aber ist nun da. Doch wenn die Einnahmen schon im laufenden Jahr „stark“, so Juncker letzte Woche, gegenüber dem Vorjahr gesunken sind und der Premier „kein Ende“ der internationalen Finanzkrise erkennt; wenn bis 2016 der Tanktourismus schrittweise auf quasi Null gefahren werden soll und bis zu 750 Millionen Euro an jährlichen Akziseneinnahmen auf dem Spiel stehen, und wenn neue EU-Regeln für den elektronischen Handel demnächst zu Mehrwertsteuer-Mindereinnahmen um 300 Millionen im Jahr führen werden – dann könnte sich die nächste Regierung schon in ihrem Koalitionsvertrag zu Einschnitten im Fiskalanteil an der Sozialversicherung veranlasst sehen. 

Sollte das geschehen, ist schon heute abzusehen, dass es zumindest in der Krankenversicherung Umbrüche geben dürfte. Sie ist seit Jahren latent defizitär und nur der große Arbeitsplatzzuwachs der letzten Jahre rettete sie vor den roten Zahlen und bewahrte den populären Gesundheits- und Sozialminister vor unpopulären Entscheidungen. 2006 feierte die Krankenversicherung ihr bestes Jahr seit dem Boomjahr 2000; das Wirtschaftswachstum betrug über sechs Prozent und die so genannte beitragsfähige Lohnmasse legte um knapp sechs Prozent zu. Der Konjunkturrückgang ab 2007 aber wird sich, wenngleich mit Verspätung, auf Beschäftigung und Beitragseinnahmen auswirken. Zudem muss vor den Wahlen der neue Spitalplan verabschiedet und über die Finanzierung von Neu- und Umbauten an Krankenhäusern entschieden werden. Deren Kosten, die in den nächsten Jahren auf insgesamt an die 700 Millionen Euro veranschlagt sind, werden traditionell zu einem Fünftel von den Krankenkassen übernommen, die anschließend höheren Funktionskosten gänzlich. Deutliche Kostenanstiege sind also bereits programmiert.

So dass womöglich die kommende Re­gierung Selektivität ganz anders auslegt als die jetzige. Wer bereits Steuerkredite gewährt, könnte ar­gumentieren, dass diese zum Zukauf privater Leistungen genutzt werden soll­ten. Besonders interessant wäre zu erfahren, welche Konzepte die Regierung mit einer Flat Tax verbindet, über deren eventuelle Einführung sie bei der Steuerverwaltung hat nachdenken lassen (siehe Seite 10/11): Nichts würde sich besser eignen als Kompensation für den Abschluss privater Zusatzversicherungen. Das Zusammenspiel zwischen Steuer- und Sozialsystem wäre dann freilich ein anderes als heute.

Peter Feist
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