Cellule de reclassement von ArcelorMittal

Staubsaugen im Walzwerk

d'Lëtzebuerger Land vom 23.04.2009

Makellos manikürt strahlt der saftig grüne Rasen rings um die Verwaltungsgebäude des Stahlwerks Esch-Belval. Die Blumenbeete sind frisch bepflanzt, kein Unkraut lugt hervor. Das mag daran liegen, dass sich pünktlich zum kalendarischen Frühlingsbeginn das entsprechende Wetter eingestellt hat. Oder aber daran, dass derzeit viele Leute Zeit haben, sich um die Grünflächen der Anlage zu kümmern. 

Das Stahlwerk in Belval fährt mit nur 25 Prozent seiner Kapazität, die Mitteleisenstraße ist nur zur Hälfte ausgelastet. Das hatte ArcelorMittal-Vorstandsmitglied Michel Wurth Anfang April bekannt gegeben, und das ist Teil des Optimierungsprozesses, den der Stahlkonzern im europäischen Langstahlsegment aufgrund der weiterhin schwachen Nachfrage eingeleitet hat. Die Angestellten der Luxem­burger Werke, die in der Produktion nicht gebraucht werden, darunter Philippe Weis, 53 Jahre alt, werden in der Celulle de reclassement (CDR) aufgefangen, die größtenteils aus dem staatlichen Beschäftigungsfonds finanziert wird. Weis ist seit Februar bei der CDR in Belval, allerdings krankheitsbedingt. Zusammen mit drei Kollegen betreut er dort augenblicklich 63 Personen. „Was wir mit den Leuten anfangen?“, wiederholt er die Frage skeptisch. „Wir beschäftigen sie. Und versuchen sie ihren Fähigkeiten entsprechend einzusetzen.“ Beschäftigung gibt es in einem Stahlwerk zuhauf, versichert er. Dazu gehören die Pflege der Grünflächen, die Renovierung von Umkleideräumen und die Arbeiten, die dabei anfallen wie Fliesenlegen, Streichen, Sanitärinstallationen austauschen, Putzarbeiten in den Hallen und natürlich die Wartungsarbeiten an den Werken selbst. Die Truppen der CDR renovieren auch Büroräume, helfen bei Umzugsaktionen. „Dies oder das“, sagt Weis. Problematisch dabei ist für ihn, dass ein Teil der Leute, die er betreut, genau wie er aus medizinischen Gründen körperlich eingeschränkt ist. Wer Rückenschmerzen hat, kann keine Umzugskartons stemmen. 

Dabei hat sich das Leben innerhalb der CDR und das Profil derjenigen, die dort beschäftigt sind, seit Anfang dieses Jahres stark verändert. „Gegen Ende vergangenen Jahres wurde die CDR stark zurückgefahren, weil das Tripartite-Abkommen so spät unterzeichnet wurde und nicht gewiss war, dass die CDR weitergeführt werden kann“, erklärt Weis, der selbst seit den frühen Achtzigern Stahlarbeiter ist. Dass sich die Struktur so schnell so dramatisch verändert – wegen des Produktionseinbruchs finden sich in der CDR auch wieder viele junge Arbeiter wieder –, ist ebenfalls nicht ganz unproblematisch. Weis selbst hat bei seiner Überweisung zur CDR eine Lohngarantie erhalten, da er seit über 20 Jahren „beim Patron“ und über 50 ist. Doch die Spielregeln innerhalb der CDR entsprechen grosso modo denen, die außerhalb der Stahlbranche gelten, wenn kurzgearbeitet wird. Da gilt seit kurzem: 90 Prozent Lohnentschädigung für die, die sich fortbilden, nur 80 Prozent für diejenigen, die es nicht tun. Damit das klappt, muss es aber erst einmal für jeden eine Weiterbildungsmöglichkeit  geben. Und daran hapert es in der CDR ein wenig, weil sie Ende 2008 eben auf das Mindestmaß heruntergefahren wurde. 

Weis, der nicht viel unnütze Worte verliert, schweigt erstmal, als er daraufhin nach Sinn und Nutzen der CDR befragt wird. „Die Älteren wie ich“, sagt er dann, „sind natürlich froh, dass es die CDR gibt. Viele denken sich, wir sind ohnehin bald weg.“ Aber, so Weis, der 2004 von Düdelingen zur Mitteleisenstraße in Belval gewechselt ist: „Natürlich würde ich lieber meinen Beruf machen. Schließlich bin ich auch heute noch ein stolzer Stahlarbeiter“, und setzt sich ein wenig aufrechter hin. „Die anderen würden auch lieber Stahl gießen, als Arbeiten zu verrichten, die andernfalls von Subunternehmern ausgeführt würden. Fraglich ist vielmehr, wie lange die einen und die anderen das Ganze bezahlen können“, fügt er hinzu. „Ich erinnere mich noch an die letzte Stahlkrise, als die Mitarbeiter freiwillig einen Teil ihrer Löhne auf Sparkonten überwiesen.“ Dann wird er wieder nachdenklich, schaut sich im Büro der Personaldelegation um, einem Relikt aus den Siebzigern, an dem sich seit der letzten Stahlkrise kaum etwas geändert hat. Ein PC dürfte zwischen aschgrauen Aktenwandschränken, mit grünem Linoleum bezogenen Konferenztischenplatten und den schwarzen Polster-PVC-Stühlen die einzige Neuheit sein. Vielleicht überlegt er sich, ob auch hier mal renoviert werden könnte.

An Lohnverzicht kann sich die jüngere Generation nicht erinnern, doch ihre Sorge um die Zukunft ist dementsprechend größer. Die sieht Weis selbst mit gemischten Gefühlen. „Wir haben hier immer nur auf Auftrag gewalzt, keine Lagerbestände angehäuft“, führt er aus und meint damit die Mitteleisenstraße TMB. „Wir werden die Produktion sicherlich wieder hochfahren. Aber das wir wieder das Niveau erreichen, auf dem wir vor der Krise produziert haben, glaube ich nicht.“ Mit dieser Prophezeiung riskiert Weis sehr richtig zu liegen. Michel Wurth selbst gab als Erklärung für die andauernden Produktionsreduzierungen an, die Lagerbestände in Europa seien weiterhin sehr hoch und würden auch nicht mit der Geschwindigkeit abgebaut, die man erwartet hatte. Was andere Beobachter dazu verleitet von einer Stahlblase zu sprechen. Durch die massive Einlagerung von Stahlprodukten bei den Zwischenhändlern sei die Nachfrage künstlich angeheizt worden, ohne dass es dafür wirklich einen Absatzmarkt gegeben habe, meint einer. 

„Würden wir hier nicht die Spundwände walzen, würde es ganz düster aussehen“, sagt der Stahlveteran. Noch weiß er nicht, wie viele Mitarbeiter zusätzlich durch die Anfang April angekündigte anhaltende Drosselung der Produktion zu seiner Einheit stoßen werden. Derzeit arbeiten sie in einer Schicht, im Sommer könnte man auch im Zweischichtsystem verfahren, falls dies nötig werde. Wann und wie sie arbeiten, darin sind die Mitarbeiter derzeit ziemlich flexibel. Als Weis durch das Stahlwerk führt, wo gerade produziert wird, grüßen ihn die Kollegen kameradschaftlich rau. Anscheinend ist Stahlwerksarbeiter nicht gleich Walzwerksarbeiter.

Weis, der nie in einem Stahlwerk gearbeitet hat, nimmt es sportlich gelassen, fragt vielmehr, bis wann sie denn diese Woche arbeiten. „Bis Donnerstag“, sagt einer der Männer im silbernen Schutzanzug, der den Gussprozess überprüft. „Bis Freitag“, korrigiert ihn ein Kollege, dessen Schutzanzug ihm ein ebenso extraterrestrisches Aussehen verleiht, über den Lärm der Rütteltische und das Zischen des verbrennenden Schmieröles hinweg. Dann zieht er seine Schutzmaske vors Gesicht, nimmt eine Stange und schlägt damit die Schlacke ab, die sich dort, wo der Strahl aus flüssigem Eisen in den Rütteltisch eintritt, bildet. „Diese Krise ist nicht vergleichbar mit der letzten“, schlussfolgert Weis. „Die ist so schnell gekommen und mit einer Brutalität, die wir vorher noch nicht erlebt haben.“  

Nebenan im TMB-Werk wird derweil das Walzprofil ausgewechselt. Weis führt über die Brücke, auf der man die ganze Anlage der Länge nach überqueren kann. Dort, erklärt er, werden die Träger auf die richtige Länge abgesägt, da drüben zusammengepackt, so wie das die Kunden bestellen. Ein Mitarbeiter mit Atemschutzmaske, wie Weis im orangefarbenen Arbeitsdress, auf den das Arcelor-Logo aufgenäht ist, saugt weiter vorne mit einem riesigen Staubsauger Staub. Wo er schon passiert ist, ist der Boden hell, überall sonst pechschwarz. Die Brücke ist ewig lang, einmal Staubsaugen muss mindestens einen Tag dauern. „Den betreue ich auch“, sagt Weis, als er vorbeigeht, und zieht das Verlängerungskabel in die richtige Richtung. Sein Mitarbeiter nimmt die nächsten Meter in Angriff. „Sie haben Glück“, sagt er. „Sie sollten mal sehen, wie das hier staubt, wenn gewalzt wird.“ 

Michèle Sinner
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