Joseph Kinsch

Der Industriekapitän legt an

d'Lëtzebuerger Land du 15.05.2008

Als Höhepunkt seiner Berufslaufbahn, die er 47 Jahre lang in der Stahlindustrie verbrachte, bezeichnete Joseph Kinsch am Dienstag das Jahr 2007. Der seit Anfang des Monats 75-jährige Verwaltungsratsvorsitzende leitete zum letzten Mal eine Aktionärsversammlung des weltgrößten Stahlkonzerns und erklärte, dass vergangenes Jahr mit der erfolgreichen Integration der ein Jahr zuvor fusionierten Stahlkonzerne Arcelor und Mittal sein Lebenswerk voll und ganz verwirklicht worden sei.

Doch die zwei letzten Jahre vor der Pension hatte er sich vielleicht ruhiger vorgestellt – bis sich die Hinweise verdichteten, dass Arcelor Ziel einer seit längerem befürchteten feindlichen Übernahme würde. Und zuerst im hektischen Abwehrkampf gegen den Übernahmeversuch und danach in den ebenso hektischen Verhandlungen um eine geordnete Einigung, mit der er auch sein Lebenswerk zu schützen versuchte, ritt Joseph ­Kinsch noch einmal den Tiger, wie Mao-Tse-Dong das nannte. Das war die zweite große Krise in Kinschs Karriere, nach der Stahlkrise von Mitte der Siebziger- bis Mitte der Achtzigerjahre, als die Arbed am Rand des Konkurses stand. Denn der Escher Sohn einer Stahlarbeiterfamilie, nicht Ingenieur, sondern Ökonom, arbeitete zeitlebens für dieselbe Gruppe, sie trug in der Zeitspanne aber drei verschiedene Namen: zuerst Arbed, dann Arcelor und nun ArcelorMittal.

Kinsch, der 1992 Präsident der Arbed-Generaldirektion und ein Jahr danach auch des Verwaltungsrats wurde, war aber auch gegen heftigen politischen und sozialen Widerstand für die Durchsetzung mittlerer Revolutionen in der Luxemburger Stahlindustrie verantwortlich: die Stilllegung der noch heute symbolträchtigen Hochöfen, die durch Elektrostahlwerke ersetzt wurden, und die Fu­sion mit der französischen Usinor und der spanischen Aceralia zur Arcelor.

Der neue Hausherr am Rousegäertchen, Lakshmi Mittal, der in der Geschäftsbilanz zusammen mit seiner Ehefrau Usha Mittal bescheiden als „significant shareholder“ aufgeführt wird, verabschiedete Kinsch am Dienstag Abend vor auserlesenem Publikum. Ein Film über die Laufbahn des Geehrten zeigte  Kollegen, Politiker und Gewerkschafter, die  allesamt Joseph Kinschs sehr höfliche und sehr große Unnachgiebigkeit betonten.In seinen Dankesworten appellierte ­Kinsch zum Abschied an die soziale Verantwortung eines Großunternehmens wie ArcelorMittal für seine Beschäftigten, die Gesellschaft und die Umwelt und wünschte sich, dass der Staat den unlauteren Wettbewerb durch soziales und ökologisches Dumping verantwortungsloser Konkurrenten unterbinde. Die mangelnde soziale Verantwortung war eine der Kritiken, die in der Übernahmeschlacht vor zwei Jahren gegen Lakshmi Mittal vorgebracht worden war. In Zukunft leitet Kinsch eine Konzernstiftung, die sich dieser Verantwortung verschrieben hat.

Mit Joseph Kinsch zieht sich eine, wenn nicht die herausragende Persönlichkeit der Luxemburger Wirtschaft aus dem Berufsleben zurück. Denn das ganze 20. Jahrhundert hindurch waren die Generaldirektoren und Präsidenten der Stahlindustrie nicht nur die Herren der wichtigsten Industrie des Landes. Sie leiteten auch die Handelskammer und Unternehmerverbände,  machten als „patron des patrons“ Wirtschafts- also Nationalpolitik. Die unvermeidliche gesellschaftliche Rolle rundeten sie mit Wohltätigkeit und Mäzenatentum ab.

Doch der Abgang von Joseph ­Kinsch symbolisiert vor allem das Ende einer Epoche in der Stahlindustrie. Bisher war Lakshmi Mittal laut dem Mitte 2006 mit Arcelor abgeschlossenen Memorandum of Understanding „President“ und Kinsch „Chairman“ des Verwaltungsrats. Nun ist auch das Amt des „Chairman“ abgeschafft, Lakshmi Mittal leitet alleine den Verwaltungsrat, wie er nach dem Rücktritt Roland Juncks Ende 2006 auch den Vorsitz der Generaldirektion übernahm.

Als Kinsch 1961 mit 28 Jahren bei der Arbed im saarländischen Burbach anfing, setzte sich nach und nach auch in Westeuropa der Managerkapitalismus durch und erlaubte einen großen Luxemburger Einfluss und sogar ein Luxemburger Modell bei einer Arbed, die von belgischem oder französischem Kapital beherrscht und von Brasilien bis Südkorea aktiv war. Denn ob die Aktionäre Société générale, Staat und am Ende sogar US-Pensionsfonds hießen, sie ließen dem Management viel Handlungsraum, insbesondere auch, als der „significant shareholder“ Streubesitz war.

Weil die Konzentration in der Branche Verspätung hatte und die Aktien unterbewertet waren, hielt der Managerkapitalismus in der Stahlindustrie und in der Arbed aka Arcelor etwas länger als anderswo. Doch vor zwei Jahren wurde sein Ende eingeleitet, und am Dienstag war er endgültig vorüber, als der neue Hauptaktionär den „Chairman“ in die Pension verabschiedete. Zu den vielen Paradoxen ihrer Geschichte zählt, dass die alte Luxemburger Stahlindustrie heute zugleich weltweit Nummer eins ist und sich zum Stake-holder-Kapitalismus bekennt, aber wieder ihren Privatbesitzer im Namen führt, wie im 19. Jahrhundert die Metze-Schmelz oder die Brasseurs-Schmelz.

Romain Hilgert
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