Gerade war bipolar noch in Mode

Multipolare Störung

d'Lëtzebuerger Land vom 19.02.2016

Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir leiden, also wir Welt. Die Welt, so ließ der Vorsitzende oder Vorstehende des Europaparlaments in einer deutschen Talgdrüsenshow verlauten, ist nämlich jetzt multipolar. Multipolar, und nicht mehr, ach, waren das noch Zeiten, die Kinder waren noch klein, der Regen noch sauer, bipolar. Multipolar, das scheint nichts Gutes zu verheißen, so wie Martin Schulz dreinschaute, man könnte es ernstlich besorgt nennen. Irgendwann sagt er, dass er Putin nicht mag. Dann schweigt er, was verplaudert er sich aber auch so, vertraut dem Sonntagabendpublikum so was an, so was Intimes? Und wenn Putin jetzt zugehört hat?

Und wir sitzen da, mit der Diagnose, mit dem Multipolaren, was sicher eine Herausforderung ist, wie alles mit Multi, Multikulti, Multitasking. Wer will schon multimedial oder multimorbid sein? Gerade ist doch Bipolar erst in Mode gekommen, die Bipolaren waren eben noch die neuesten Trendsetter – wer spricht noch von Borderlinerinnen? Überall sind plötzlich Bipolare, wir sind es selber über Nacht, kein Mensch trägt mehr eine zünftige manische Depression. Und jetzt Multi, schluck, so schnell kann es gehen, und dann gleich die ganze Welt!

Wobei, guggelguggel, so übel scheint diese Multipolarität, die die Welt befallen hat, gar nicht zu sein. Ein Multipolaritätswikipediaforscher gerät sogar ins Schwärmen. Kein Wunder, dass die anderen Multipolaritätswikipediaexperten – es gibt erstaunlich wenige von ihnen und sie schreiben auch erstaunlich wenig, es scheint ein multipolares Thema zu sein – von ihm abschreiben. Etwas Besseres finden sie nicht. In einer multipolaren Welt sei die Verteilung der Macht ausgeglichen, schreiben sie, die Staaten hätten ein gleichberechtigtes Verhältnis zueinander. Kein Staat dominiere den anderen.

Das klingt toll, mindestens so verführerisch wie eine Broschüre der Zeug_innen Jehovas. War es das, was der Präsident des Europäischen Parlaments gemeint hat? Aber warum hat er dann so besorgt geschaut, so ernsthaft besorgt?

Und warum hat er gesagt, wir seien in einer verzweifelten Lage? Wegen dem Vaquum, immer reden sie besorgt von diesem Vaquum, der scheint auch kein Guter zu sein. Aber wahrscheinlich sind wir einfach nur in einer Übergangsphase, die Nicht-Multipolaritätsexpert_innen mit einer Untergangsphase verwechseln könnten. Jetzt, da keine eisernen Vorhänge mehr unflexibel herum hängen oder Mauern im Weg stehen – in der multipolaren Welt können sie ja schließlich auch mal woanders aufgestellt werden, einmal ist der dran, einmal die, eigentlich fair. Auch die Kriegsherde sind mobil, und das Kapital ist volatil. Alles ist viel abwechslungsreicher geworden. Ein munteres Patchwork-Beziehungswerk, an dem beziehungstechnisch dauernd gearbeitet wird, offene Beziehung nannte man das früher. Es gibt Gespräche Tag und Nacht. Wir müssen noch mal reden, Wladimir! Statt dieser ehernen Zwangsehe, an die sich die ältere Degeneration noch erinnert. Damals, liebe Nachfahrinnen, saßen sich die zwei Alten eiskalt gegenüber, immer die gleichen zwei, ihr könnt euch das sicher gar nicht mehr vorstellen, heute ist das Angebot ja viel größer. Es gibt viel mehr Feindbilder, viel diversere, aus allen Höllenrichtungen. Wir Kinder hatten dagegen nur die beiden Fossile. Wir zitterten, dass einer der beiden den Kopf verlieren und auf den Knopf drücken könnte, damals gab es noch Knöpfe, und Köpfe, vielleicht nur zufällig, weil er schon ein bisschen schusselig war, oder des Ganzen überdrüssig.

Trotzdem, manchmal wird man ein bisschen nostalgisch. Es geht doch nichts über einen verlässlichen guten alten Hass. So was nennt man Stabilitätsgarant. Falls noch jemand solche Ausdrücke versteht, aus der Stein- und Mauerzeit.

Vielleicht litten diese Multipolarwikipediaexpert_innen aber selber an einer bipolaren oder gar einer multipolaren Störung, die ja von unkontollierbarer Euphorie bis hin zur Katatonie gehen kann – Verliebtheit ist zum Beispiel ein häufiges Symptom – beim Verfassen ihrer Zeilen? Die sind manchmal ja sehr schwer zu erkennen, manche Betroffene werden von der unaufgeklärten Umgebung als Nervensägen oder als Schwärmerinnen abgetan.

Es wird immer schwerer, Diagnosen zu erstellen. Und dann gar globale.

Michèle Thoma
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