Vormarsch der Puritaner

Zärtlichkeitsterroristen

d'Lëtzebuerger Land vom 20.12.2013

Heute loben wir den Vormarsch der Puritaner. In einer texanischen Vorschule geschah Schreckliches. Ein vierjähriger Dreikäsehoch hat eine Lehrerin unsittlich berührt. Nicht nur das: Er soll sogar seinen Kopf an den Brüsten seines Opfers gerieben haben. Die derart vergewaltigte Lehrerin klagte wegen sexueller Aggression, und die Schulleitung beschloss, den gesetzesbrecherischen Bengel vorübergehend vom Vorschulunterricht auszuschließen.

Nun versteht der Vater des gemaßregelten Kindes die Welt nicht mehr. Ja, wo lebt der Mann denn? Sollen wir ihm wirklich zuhören, wenn er behauptet, sein Sohn sei zu einer Triebtat gar nicht fähig, er habe lediglich sein Bedürfnis nach ein bisschen Zuneigung zum Ausdruck gebracht? Was sind denn das für leichtfertige Ausreden? Als echte Puritaner haben wir eine Linie, die wir auf gar keinen Fall aufgeben möchten: Was wir nicht begreifen, ist des Teufels. Es ist schon eine schwere Belastung für unser puritanisches Gewissen, dass Frauen überhaupt mit provokanten Brüsten ausgestattet sind. Daher soll nicht zu allem Überfluss auch noch ein Knilch auftauchen, der diese Brüste förmlich visualisiert, indem er nach ihnen grapscht. Brüste sind nämlich ein permanentes Ärgernis in unserem puritanischen Alltag. Wir sollten sie verbergen, nicht streicheln.

Wahrscheinlich wird sich schnell herausstellen, dass dieser amoralische Knilch ein unverschämter Wiederholungstäter ist. Vermutlich hat er schon im Alter von zwei Monaten schamlos an den Brüsten seiner Mutter herumgenestelt. Sicher werden sich Zeugen finden, die unter Eid schwören, dieses se-xuelle Monster habe die Brüste seiner Mutter nicht nur mit Händen gegriffen, sondern auch mit dem Mund förmlich ausgesaugt. Wenn wir Puritaner noch ein klein wenig weiterforschen, wird uns bald noch weit Unerhörteres auffallen: Es heißt, der kriminell veranlagte Knabe habe schon bei der Geburt seinen Kopf an der Vagina seiner Mutter gerieben, unter den entsetzten Augen der Gynäkologen und Hebammen. Wie wir aus puritanischer Quelle erfahren, soll es der solcherart malträtierten Mutter schwergefallen sein, nicht schon im Kreißsaal eine Klage gegen ihr sexuell auffälliges, gewalttätiges Kind einzureichen.

Noch schwerwiegender und an sexueller Brutalität kaum zu übertreffen ist der Fall einer spanischen Pianistin. Die Frau steht vor Gericht und riskiert eine Gefängnisstrafe von sieben Jahren. Was hat sie verbrochen? Es fällt uns wirklich schwer, ihr Vergehen hier zu schildern: Sie hat ihr Klavier aufs schlimmste misshandelt. Fünf Jahre lang soll sie Woche für Woche an fünf Tagen bis zu acht Stunden ihre pianistische Besessenheit ausgelebt haben, und zwar nicht im Verborgenen, sondern mitten in ihrer Wohnung. Eine Nachbarin brach ob soviel Unverfrorenheit physisch und psychisch zusammen und klagte schließlich wegen exzessiver Lärmbelästigung. Das Gericht erwägt nun, auch die Eltern der Pianistin zu einer siebenjährigen Einkerkerung zu verdonnern. Sie sollen exemplarisch bestraft werden, weil sie ihre Tochter zum Klavierspiel verführt haben.

Wem diese Geschichte höchst spanisch vorkommt, der hat nicht verstanden, worum es im Wesentlichen geht. Die Frage der akustischen Überforderung, an der die Nachbarin grausam leidet, ist eigentlich nebensächlich. Diese aufmerksame Zeitgenossin hat im Grunde nur eine tiefgreifende sexuelle Perversion aufgedeckt. Denn das kriminelle Benehmen der Pianistin liegt genau auf der gleichen Ebene wie die verwerfliche Triebtat des texanischen Knilches. Diese als Künstlerin getarnte Verbrecherin ist nichts weiter als eine rücksichtslose Klavierschänderin. Sie hat sich jenseits aller gesunden Moralvorstellungen immer wieder an einem wehrlosen Musikinstrument vergriffen. Ihre sonderbare Art, täglich obsessiv die Tasten zu streicheln, sich also an der seelischen Gesundheit des Klaviers zu vergehen, ist nur der äußere Ausdruck einer unfassbaren Verkommenheit.

Insofern ist der mutige Gang der Nachbarin vor Gericht ganz einfach eine humanitäre Glanzleistung. Diese aufgeklärte Frau stellt sich schützend vor die entrechtete Minderheit der Klaviere. Es gilt in der Tat, die friedlichen, geduldigen, von ihrem Wesen her sehr empfindsamen Klaviere vor den Attacken einer enthemmten Triebtäterin abzuschirmen. Das Klavier hat ein unantastbares Recht auf organische Unversehrtheit. Dass es nicht vor Schmerz und Empörung schreien kann, ist ein böser Nachteil für das Klavier. Ein Glück, dass der Zufall eine Nachbarin auf den Plan gerufen hat, die sich buchstäblich als Expertin für Klaviermissbrauch entpuppt.

Gelegentlich taucht die Frage auf, wieso die spanischen Gerichte sich seit Jahrzehnten so schwer tun, den ehemaligen Diktator Franco endlich unmissverständlich und eindeutig zu verurteilen. Die Antwort liegt auf der Hand: Herr Franco hat sich nie und nimmer des Angriffs auf sensible Klaviere schuldig gemacht. Und aus seiner Biografie lässt sich auch nicht herauslesen, dass er je als Vierjähriger seinen Kopf an den Brüsten einer Lehrerin gerieben hat.

Guy Rewenig
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