20 Jahre Wachstumsdebatte

Zukunftsprojekt weniger Rente, weniger Ausländer

d'Lëtzebuerger Land vom 02.03.2018

„In den vergangenen Wochen kam Schwung in die Diskussionen rund um die Thematik des Wirtschaftswachstums,“ freute sich das Mouvement écologique vergangenen Monat. Denn „Joghurtfabrik, Steinwollefabrik, Google …“ seien „problematische Projekte, Symptome einer fragwürdigen Wirtschaftspolitik“. Deshalb würfen sie „grundsätzliche Fragen darüber auf, welche Diversifizierungspolitik wir anstreben. Insofern führten sie nicht ohne Grund zu einer Kontroverse zwischen dem Wirtschaftsminister und dem Nachhaltigkeitsminister bzw. der Umweltministerin“. Einer Kontroverse zwischen sozialistischen und grünen Politkern, an der sich auch christlich-soziale Politiker, Unternehmerverbände und Umweltschutzvereine lebhaft beteiligen wollen.

Aber Joghurt- und Steinwollfabrik oder Rechenzentrum sind nur Stichwörter, die eine Wachstumsdiskussion auslösen, die seit 20 Jahren mit wechselnden Stichwörtern jedesmal geführt wird, wenn ein Wahlkampf auf dem Höhepunkt eines Konjunkturzyklus stattfindet. Ihr Erfinder ist, wie der Erfinder so vieler Dinge in der Luxemburger Politik, der ehemalige CSV-Staatsminister Jean-Claude Juncker. Als die CSV/LSAP-Koalition nicht nur die 5/6-Pension im öffentlichen Dienst abschaffen, sondern auch die Rentenentwicklung in der Privatwirtschaft drosseln wollte, hatte er in seiner Erklärung zur Lage der Nation am 7. Mai 1997 theatralisch Panik geschürt: „Weil das alles so kommen wird, weil das alles mit Sicherheit so kommen wird, werden wir mit Karacho gegen eine Mauer rennen. Diese Mauer wartet auf uns am 1. Januar 2015. Diese Mauer wartet auf uns in 20 Jahren“ (S. 29).

Damit war das Panikwort „Rentenmauer“ in Umlauf gesetzt worden. Es wurde zu einer Konstanten aller späteren Wachstumsdebatten, auch wenn der 1. Januar 2015 verstrich, ohne dass „wir mit Karacho gegen eine Mauer“ gerannt wären. Doch bei den Wahlen 1999 machte die „Rentenmauer“ niemandem Angst. Im Gegenteil: Weil die CSV/LSAP-Regierung mit der Abschaffung der 5/6-Pension Sozialneid gegen den öffentlichen Dienst bedient hatte, erzielte die Rentenpartei der Privatwirtschaft ADR das beste Ergebnis ihrer Geschichte, die DP gewann als Rentenpartei des öffentlichen Dienstes die Wahlen mit dem zweithöchsten Ergebnis ihrer Geschichte. Zusammen saßen sie am Rententisch, um zehnprozentige Rentenaufbesserungen zu beschließen.

Daraufhin erfand der sich übergangen fühlende Premier Jean-Claude Juncker nicht nur die Mammerent, sondern das bis heute unabdingbare Korollar zur „Rentenmauer“ und Herzstück alle Wachstumsdebatten: Nach dem Abschluss des Rententischs klagte er am 20. Juli 2001 resigniert, nun sei der Marsch in den „700 000-Einwohnerstaat“ endgültig besiegelt, denn er sei nötig, um die gerade beschlossenen Rentenerhöhungen zu finanzieren. Ein Jahr später klagte er in seiner Erklärung zur Lage der Nation, es sei „nicht mein Traum, nicht meine Wunschvorstellungen“, dass „wir im Jahr 2020 zu mehr als 500 000“(sic) seien und, wenn die Bevölkerung weiter wachse „im Jahr 2050 zu mehr als 700 000“ wären. Damit hatte die Wachstumsdebatte ihre bis heute gültige Form erhalten, das falsche Dilemma: zum Schutz der Luxemburger Kultur und Natur mit weniger Rente weniger Ausländer zu erkaufen. Ausländer werden mit Umweltverschmutzung durch Verkehrsstaus und Zersiedlung der Natur gleichgesetzt.

So wurde Jean-Claude Juncker zum geistigen Vater des am 12. Oktober 2002 in Bartringen gegründeten Vereins Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg?, der laut Satzung auf die „vernichtenden Auswirkungen eines maßlosen wirtschaftlichen Wachstums auf die Umwelt und die Lebensqualität der Bürger Luxemburgs“ aufmerksam machen wollte. Es war eine Nachfolgeorganisation der Bürgerinitiative gegen die Industriemülldeponie von Haebicht. An ihrer Spitze wollte der pensionierte Zahnarzt Henri Hoesch, der es bis zum Bürgermeister von Mamer gebracht hatte, nicht mehr bloß die Eigenheimsiedlungen der Selbstständigen und Beamten von Mamer gegen die Mülllaster der Industrie verteidigen, sondern sämtlicher Schlafgemeinden rund um die Hauptstadt gegen Zugezogene und Grenzpendler.

Aber Henri Hosch war nicht klüger als Jean-Claude Juncker, der sich mit Mühe an der von anderen Parteien verlangten Einberufung eines „Zukunftstisch“ vorbeidrückte. Beide hatten verschlafen, dass schon im Vorjahr als Folge der geplatzten Internetblase das Wirtschaftswachstum dramatisch abgestürzt war. Findet aber ein Wahlkampf auf dem Tiefpunkt eines Konjunkturzyklus statt, fällt die Wachstumsdebatte aus. Hosch verzichtete auf die geplante Kandidatur und im Wahlkampf wurde über die Betriebsschließungen und die Rekordarbeitslosigkeit geredet. Kurz vor den Wahlen warf CSV-Fraktionssprecher Lucien Weiler während der parlamentarischen Debatte über die Erklärung zur Lage der Nation der LSAP höhnisch vor: „Wer hat noch hier im Sommer 2002, das sind noch keine zwei Jahre her, als wir alle zusammen noch unter dem Eindruck des Wirtschaftsbooms standen, davon gesprochen, ‚die Wirtschaft ernsthaft abzubremsen‘“, damit nicht zu viele Arbeitsplätze geschaffen und der Weg in den 700 000-Einwohnerstaat geebnet würde?

Doch während die Wahlen 2004 schon zum Zeitpunkt eines schwachen Aufschwungs abgehalten wurden, fanden die Wahlen von 2009 statt, als die Wirtschaft in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise um 4,3 Prozent schrumpfte, im tiefsten Konjunkturloch seit 1975 steckte. Der Wahlkampf handelte von Krise, Arbeitslosigkeit und Staatsfinanzen. Weil die Mittel knapp geworden waren, beschlossen CSV und LSAP im Koalitionsabkommen, als Trostpreis für das Ende des sozialen Fortschritts einen „zusammengesetzten Indikator des Wohlbefindens, der über das traditionelle BIP pro Einwohner hinausgeht“; vergangenes Jahr wurde er als ­PIBien-être. The report veröffentlicht.

Unter den Krisenbedingungen nahm die Wachstumsdebatte eine neue Wende. Weil die Rentenmauer nicht in Sicht war, warnte die Handelskammer im November 2009 in ihrem Haushaltsgutachten vor einer „évolution bien plus dangereuse encore, à savoir l‘accroissement exponentiel de la dette implicite lié au financement à long terme du système public d‘assurance pension.“ Mit Hilfe der Maastricht-Kriterien wurde die implizite Staatsschuld als neue Rentenmauer fester Bestandteil jeder Wachstumsdebatte. Die stets damit in Zusammenhang gebrachten Überfremdungs- und Überbevölkerungsängste konzentrierten sich auf die Suche nach Lücken im europäischen Recht, um die Grenzpendler, fast die Hälfte der Erwerbstätigen, um Sozialleistungen zu betrügen. Die DP hatte in ihrem Wahlprogramm gewarnt: „Export von Kindergeld ins nahe Ausland explodiert. Weit über 250 Millionen Euro müssen jährlich aufgrund europäischer Regelungen an Familienleistungen ins nahe Ausland überwiesen werden.“ Mit dem Wohlwollen von Unternehmerverbänden erfanden CSV und LSAP Kinderbonus, Chèques-services und Studienbörsen, die DP ein „Wohngeld“ und die Grünen einen „Ökobonus“, bei denen die Grenzpendler stets leer ausgehen sollten.

Die Wahlen 2013 fanden zwar zum Zeitpunkt eines Konjunkturaufstiegs statt, aber der Wahlkampf war auf den Sturz der CSV/LSAP-Koalition und liberale Reformen konzentriert, mit denen der CSV-Staat entstaubt und modernisiert werden sollte. Doch bei seiner Kür zum Spitzenkandidaten der CSV im Oktober 2016 ließ Claude Wiseler keinen Zweifel daran, dass er im Wahlkampf 2018 eine Wachstumsdebatte führen, das heißt malthusianistische Panik schüren wolle: Denn drei bis vier Prozent Wachstum bis 2060 bedeuteten, dass in den nächsten 40 Jahren „sechs Städte Luxemburg gebaut“ oder „jede Gemeinde verdoppelt“ werden oder „alle in den vergangenen 500 Jahren errichteten Gebäude noch einmal gebaut werden“. Zudem müssten „jeden Tag 400 000 Grenzpendler“ zur Arbeit kommen, und dann gebe es nur „noch 30 Prozent Luxemburger“ im Land. Andernfalls seien 50 Prozent der Lohnmasse als Rentenanrechte bei 24 Prozent Beiträgen nicht möglich.

Das war auch ein Angebot zu einer großen Koali­tion von Schwarz bis Grün, aus christlicher Verzichtsethik und ökologischem Nachhaltigkeitsgebot, die aber auch der von Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) verbreiteten liberalen, industriefreundlicheren Variante der Wachstumsdebatte offensteht. Denn Schneiders Chefideologe Jeremy Rifkin rechtfertigt die Demontage des derzeitigen Sozialstaats mit ebenso regressiven Schwärmereien von einem vorindustriellen, mittelständischen oder substistenzwirtschaftlichen IT-Biedermeier.

Romain Hilgert
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