Goodyear

Haute Couture

d'Lëtzebuerger Land du 19.10.2006

Forschung und Entwicklung bei Goodyear, das stellt eine besondere Dimension hierzulande dar. Das Goodyear Technical Center * Luxembourg (GTC*L) in Colmar-Berg ist das größte Forschungszentrum des Konzerns außerhalb der USA, und mit über 900 Mitarbeitern und davon mehr als 400 mit Uni-Diplom oder Doktorgrad die noch immer größte Konzentration forschender Intelligenz in einem einzigen Betrieb in Luxemburg. Kann ein so potentes Forschungszentrum, das jedes Jahr an die hundert Patente und Trade secrets anmeldet, seine Innovationskraft auf andere Firmen des Standorts übertragen, und können kleinere Unternehmen innovative Lösungen an eine so große Ideenschmiede verkaufen?

„Die meisten unserer Partnerschaften mit anderen Luxemburger Firmen betreffen Leistungen für uns, Teilaufgaben innerhalb eines größeren Forschungsprojekts“, sagt Edouard Michel, Abteilungsleiter im Forschungszentrum. Sous-traitance also, wenngleich sie hohes Knowhow erfordert. Aber Partnerschaften auf gleicher Augenhöhe gibt es auch. Eine wurde im Frühjahr 2004 geschlossen und dauert bis Ende dieses Jahres – vorläufig. Sie könnte noch weitergeführt werden, denn die Thematik, um die es geht, ist viel versprechend. Und der Partner des Goodyear-Forschungszentrums war eigens für diese Kooperation als Betrieb gegründet worden.

RunOnFlat – unter diesem Markennamen hatte Goodyear Anfang der Neunzigerjahre als erster Hersteller weltweit eine ganz neue Gattung von Pkw-Reifen auf den Markt gebracht. Ihr Merkmal: Sogar falls nach einem Reifenschaden der Luftdruck auf Null gesunken war und ein Autofahrer mit herkömmlichen Pneus entweder buchstäblich auf den Felgen fährt oder längst die Kontrolle über seinen Wagen verloren und einen Unfall verursacht hat, sogar für diesen Fall garantierte Goodyear, mit den neuen Reifen sei es möglich, unbeschwert weiter zu fahren. To run on flat eben, wenigstens über eine bestimmte Distanz hinweg. Weil diese Garantie hielt, was sie versprach, begannen andere Hersteller, ähnliche Reifen zu entwickeln, und Goodyear führte 2001 die zweite Generation seiner ROF-Pneus ein. In Europa sind sie seitdem für Wagen der Oberklasse und der Luxusklasse zu haben.

Doch es ist so eine Sache mit diesen neuen Reifen. Tests auf dem Parcours am Forschungszentrum in Colmar-Berg hätten ergeben, dass „bei angemessener Geschwindigkeit“ ein völlig entleerter ROF sogar Slalomfahrten zulässt, ohne dass der Wagen außer Kontrolle gerät, sagt Anne Peronnet-Paquin, die ROF-Projektverantwortliche für die Reifensimulation im GTC*L. Diese Widerstandsfähigkeit aber muss ihren Preis haben, da in einem normal gefüllten Reifen die Luft 80 Prozent aller im Fahrbetrieb auftretenden Kräfte aufnimmt. Hat sie auch: Wo der traditionelle Reifen bei null Innendruck in sich zusammenfällt, wird ein ROF durch ein viel steiferes Material in den Reifenflanken in Form gehalten. Die höhere Steifigkeit aber geht auf Kosten des Fahrkomforts. Fahren mit ROF würde sich weniger weich anfühlen – wenn die Automobilhersteller das nicht ausgleichen würden durch Veränderungen an der Federung von mit ROF bereiften Autos. „Dazu sind die Hersteller bereit“, sagt Peronnet-Paquin. Denn ROF-Bereifung verleiht einem Auto ein Hightech-Image und ist ein Zugewinn an passiver Sicherheit, wie ihn Airbags oder ABS einst mit sich brachten. Die garantierte Laufleistung nach einem Reifenschaden erlaubt darüber hinaus, das Reserverad einzusparen und den hinteren Fahrzeugbereich für konstruktive Neuerungen zu nutzen. Dass die Federung eines Autos geändert werden muss, das mit ROF fahren soll, wird jedoch zum Problem für Goodyear, wenn man mit der nächsten, der dritten Generation der RunOnFlat auch andere Pkw-Segmente als Ober- und Luxusklasse beliefern möchte. Mit herkömmlichen Reifen ausgestattete Kfz auf ROF umzustellen, wäre ebenfalls schwierig. Deshalb soll, sagt Anne Peronnet-Paquin, die neue ROF-Generation gar keine Änderungen an der Federung mehr nötig machen.Das aber würde heißen, einen Reifen zu entwickeln, der beides kann: Bei Normal-Innendruck so weich laufen wie ein herkömmlicher, sich bei Beschädigung so steif machen wie ein ROF. Diese Steifigkeit müsste sich obendrein ändern je nach den Anforderungen, die sich an den beschädigten Reifen stellen. Gesucht wird sozusagen ein intelligenter Reifen. Denn um das Laufverhalten eines Pneus zu beschreiben, gibt es immerhin mindestens 15 Parameter.

Weil das so ist, sind ausgefeilte mathematische Modellbildung und Computersimulation das täglich’ Brot der Goodyear-Forscher in Colmar-Berg, ehe es an Laborversuche und Praxistests geht. Denn ein Reifen denkt ja nicht. Ein Reifen ist vor allem ein Polymerprodukt, besteht unter anderem aus mehreren Kautschukschichten mit unterschiedlichen Eigenschaften, und diese Schichten können Einschlüsse enthalten, die dort hinein gegeben wurden, um der Kautschukschicht zusätzliche Charakteristika zu verleihen. Die Größe von manchen bewegt sich im Molekularbereich und ist nur mit Nano-Analyse festzulegen.Andere sind mit bloßem Auge zu erkennen, wie etwa Stahlfasern. 

Einen Reifen entwickeln zu wollen, der so unterschiedlichen Anforderungen gerecht wird wie der ROF der dritten Generation es soll, das sei „Haute Couture“, meint Anne Peronnet-Paquin.Dabei konzentriert sich der Materialstress auf einen bestimmten Punkt – und zwar auf die Stelle, wo der entleerte Reifen durch die äußeren Kräfte am stärksten gefaltet wird. Da ein ROF diesen Kräften mit besonders viel Widerstand begegnet, erwärmt sich das Reifenmaterial im Stresspunkt auf bis zu 150 Grad Celsius. Viel mehr aber hält der bisher gebräuchliche Reifenkautschuk nicht aus. „Wir arbeiten deshalb am Material und an seiner Struktur innerhalb der Reifengeometrie“, sagt Peronnet-Paquin. 

Und dafür war die Partnerschaft mit einem kleinen Betrieb entscheidend. e-Xstream, ein Spin off des Forschungsbereichs Materialwissenschaften der Université catholique de Louvain, hat eine Software zur Simulation des Verhaltens von Verbundmaterialien generell entwickelt. Bisher war sie überwiegendfür Thermoplast- und Stahlverbünde zum Einsatz gekommen; nun sollte sie für Kautschuk-Kompositionen erweitert werden und anschließend helfen, den „intelligenten“ RunOnFlat der dritten Generation zu modellieren. Zu diesem Zweck gründete e-Xstream in Luxemburg die Filiale e-Xstream Engineering und verpflichtete mehrere Fachleute für Polymerwerkstoffe. Das Wirtschaftsmini-sterium unterstützte das Projekt finanziell.

Goodyear habe diese Partnerschaft eine besonders effiziente Modellbildung ermöglicht, sagt Anne Peronnet-Paquin. „Der klassische Weg besteht ja darin, zunächst Materialtests zu machen. Die wertet man aus und stellt auf ihrer Basis ein mathematischesModell auf. Dessen Verhalten wird dann am Computer unter den verschiedensten Bedingungen simuliert. Das ist ziemlich deduktiv, will man etwas anders machen, muss man von vorn anfangen.“ Die Software des kleinen Forschungspartners dagegen erlaubte es nicht nur, die Bestandteile eines Verbundwerkstoffs virtuell zu mischen, sondern auch, während der Computersimulation das Verhalten der einzelnen Bestandteile zu kontrollieren. „Zu sehen, wohin die Bestandteile des Reifenmaterials sich unter Belastung orientieren, war besonders wichtig“, so Peronnet-Paquin, „denn wir sind in unseren Experimenten mitunter weit über den Rahmen des Üblichen für die Zusammen-setzung von Reifenwerkstoffen hinausgegangen.“

Auf diese Weise kam Goodyear dem RunOnFlat der nächsten Generation ein gutes Stück näher. Forschungs-Manager Edouard Michel nennt die Partnerschaft mit e-Xstream Engineering„einen vollen Erfolg“. Das neue Modellierverfahren soll nun auch für andere Entwicklungen des Forschungszentrums in Colmar-Berg eingesetzt werden. Die Modellbildung wird ebenfalls weiter vertieft:„Bis auf die Ebene des mikroskopisch Kleinen.“ Weil sich da vermutlich fundamentale Fragen der Chemie, Mechanik und Mathematik stellen werden, wollen Goodyear und e-Xstream versuchen, diese neue Phase ihres Projekts an ein EU-Forschungsprogramm zu koppeln.

 

Peter Feist
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