Lissabon-Strategie

Alle sollen innovieren

d'Lëtzebuerger Land du 20.10.2005

Vor knapp zwei Wochen unterzeichneten das Wirtschaftsministerium, das Statistikamt Statec und das Centre de recherche public Henri Tudor eine Konvention. Mesurer et comprendre l’économie de la connaissance heißt ihr Titel; behandelt werden sollen in interdiziplinärer Partnerschaft drei Fragenkomplexe: Welche Produktivitätsgewinne erlaubt die Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien? Wie sind Unternehmergeist und die Unternehmenslandschaft in Luxemburg einzuschätzen? Und zum dritten: die Innovation in all ihren Formen.

Diese Allianz ist alles andere als nebensächlich und wurde eigentlich zu spät geschmiedet. Denn schon Ende November soll und will die Regierung die nationale Strategie für Innovation und Vollbeschäftigung an die EU-Kommission übergeben. Und die von den EU-Staaten vor fünf Jahren aufgestellten und in diesem Jahr präzisierten Leitlinien der Lissabon-Agenda suggerieren, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen Innovation und Beschäftigung und eine „Wissensgesellschaft“ anzustreben sei.

Zunehmend ist im Gefolge der „Lissabon-Debatte“ die Rede von Forschung und Entwicklung. Der diese Woche vorgestellte Staatsbudgetentwurf für 2006 sieht trotz knapperer Finanzlage einen Zuwachs der öffentlichen Forschungsausgaben um 21 Prozent vor. Damit könnten die finanziellen Forschungsaufwendungen insgesamt den Zwei-Prozent-Anteil am BIP überschreiten: 2004 machte der öffentlich bestrittene Anteil der Forschungsfinanzierung 0,32 BIP-Prozent aus, der private im Jahr 2003 – neuere Zahlen liegen nicht vor – 1,58 Prozent. Bis 2010, so lautet ein Lissabon-Ziel der EU, sollen in jedem Mitgliedstaat insgesamt drei Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung ausgegeben werden, und wenn nicht bis 2010, dann zumindest „à terme“ will auch die CSV-LSAP-Regierung diese Marke erreichen.

Doch Ausgaben zu beschließen, ist das eine. Die Frage, wie man sie steuernd einsetzt, um bestimmte volkswirtschaftliche Resultate wie längerfristig anhaltendes Wachstum, gesicherte Steuereinnahmen für den Staat oder Beschäftigungszuwächse zu erzielen, das andere. Anfang September lag dem Wirtschaftsminister und nationalen „Lissabon-Koordinator“ die bislang erste „Fotografie“ des Innovationsverhaltens der heimischen Industrie- und Dienstleistungsbetriebe vor. Luxinnovation, das Mitte der Achtzigerjahre von Ministerien, Fedil, Handels- und Handwerkskammer gegründete Groupement d’intérêt économique zur Vernetzung öffentlicher und privatwirtschaftlicher Forschungs- und Innovationsprojekte, hatte europäische und nationale Studien zu einer Bestandsaufnahme aufbereitet, die im Wesentlichen die Jahre 1998 bis 2000 umfasst. 

In diesem Zeitraum hatten rund 45 Prozent der Betriebe ihre Produkte und/oder ihre Produktionsprozesse im Rahmen regelrechter Innovationsprojekte verbessert, und bezog man noch nicht abgeschlossene Projekte ein, wären 48 Prozent der Unternehmen als „innovierend“ einzustufen gewesen. Besonders aktiv in Produkt- und Prozessinnovation aber waren erstens industrielle Großbetriebe, zweitens ihrem Profil nach Hochtechnologiefirmen und nicht zuletzt drittens kleine Telekommunikations- und Informatikdienstleister gewesen.

Das muss nicht überraschen. Informatiklösungen haben vergleichsweise kurze Lebenszyklen und werden immer wieder erneuert, und zwischen 1998 und 2000 glaubten noch viele an den Segen der New Economy. Der Löwenanteil der privatwirtschaftlichen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten aber entfiel damals und fällt höchstwahrscheinlich noch immer auf entweder besonders große und/oder besonders forschungsintensive Unternehmen wie zum Beispiel Goodyear, Profilarbed, Delphi, IEE oder DuPont de Nemours. Allein Goodyear mit dem über 900 Mitarbeiter und davon 450 Forscher umfassenden Technologiezentrum in Colmar-Berg bringt es nach vorsichtigen Schätzungen auf einen Anteil von rund 30 Prozent der finanziellen Aufwendungen der Privatwirtschaft für Forschung und Entwicklung. 

Derweil haben sich in öffentlichen Forschungseinrichtungen und seit fünf Jahren strategisch unterstützt vom 1999 gegründeten nationalen Forschungsfonds Exzellenzfelder herausgebildet: z.B. in Informatik und Datensicherheit am CRP Henri Tudor; in der Materialanalyse im Nanometerbereich am CRP Gabriel Lippmann sowie in den, im weitesten Sinne, Life Sciences und Gebieten wie Virologie, Immunologie und  Zellforschung am Laboratoire national de la Santé und am CRP Santé. Die von der Universität vorläufig festgehaltenen Forschungsachsen, die der Staatshaushaltsentwurf diese Woche auch in finanzpolitischer Hinsicht bestätigt hat, setzen zum Teil ebenfalls dort an und sollen komplementär und stärker grundlagenbezogen sein: Mit „Cellular Communication in Health and Diseases“, „Computational Engineering“ und „Security and Trust in Digital Communication“ sollen drei der acht Schwerpunkte auf auch in anderen Einichtungen  Erreichtem aufbauen.

Wenn nächstes Jahr eine von der Regierung bei der OECD bestellte Studie über die öffentliche Forschungslandschaft vorliegen wird, soll die Diskussion über die Forschungsrollenverteilung der CRP und der Uni Luxemburg weitergeführt werden. Wirtschaftsminister Krecké hatte Anfang September nach Vorlage des Luxinnovation-Berichts gemeint, „die Unternehmen müssen im Zentrum“ der Überlegungen über Forschung stehen, sonst sei Forschung „l’art pour l’art“.Das ist ein problematisches Verdikt, denn ein regelrechtes Zentrum für Technologietransfer ist nur das CRP Henri Tudor. Selbst wer den Begriff „Grundlagenforschung“ für überlebt hält, müsste berücksichtigen, dass zum Beispiel die Nanometer-Materialanalyse, die im CRP Gabriel Lippmann betrieben wird und deren teure Apparaturen von nicht wenigen Industriebetrieben genutzt werden, einen erheblichen und grundlegenden Vorab-Forschungsaufwand voraussetzt, um die Analyseergebnisse überhaupt interpretieren zu können. 

Andererseits aber kooperierten, um zu innovieren, zumindest zwischen 1998 und 2000 Betriebe aller Größenordnungen in erster Linie mit anderen Betrieben ihrer Muttergesellschaft, mit Zulieferern, Kunden und sogar – vor allem auf Kleinbetriebe traf das zu – mit Konkurrenten ihrer Branche. Luxinnovation vermerkt das mit Stolz und führt es zurück auf seine Bemühungen, Betriebe für die Mitarbeit in den seit 2002 bestehenden Technologie-Clustern zu gewinnen: etwa in dem als besonders erfolgreich eingeschätzten Cluster Surfmat, der eine Kooperation in der Forschung zur Behandlung von Materialoberflächen anregen will und dem Betriebe sowohl aus der Metallurgie wie der Keramikindustrie angehören.

Dagegen griffen kleine Industriebetriebe gar nicht, mittlere ein wenig und nur große in stärkerem Ausmaß auf die Kooperation mit öffentlichen Forschungseinrichtungen zurück. Kleine und mittlere Dienstleistungsfirmen dagegen arbeiteten mit öffentlichen Einrichtungen häufiger zusammen. Einschätzungen aus den CRP zufolge hat dieses Verhältnis sich in den letzten Jahren geändert. Ein Hindernis für die öffentlich-private Kooperation aber bestand noch im ersten Halbjahr dieses Jahres darin, dass  die Mitarbeit von CRP in Technologie-Clustern von Luxinnovation nicht erwünscht war. Erst mussten; aus, wie es heißt, „Vertraulichkeitsgründen“.

Das sind Phänomene des Innovationsverhaltens, die es zu erklären gilt, wenn seit Sommer dieses Jahres ein Update der von Luxinnovation genutzten Zahlen vorliegt und derzeit ausgewertet wird. Darin wird es auch um die Frage gehen, welchen Bedarf an Unterstützung Betriebe haben. Inoffiziellen Angaben des Statec nach gibt ein Anteil von 40 bis 50 Prozent der Befragten an, Informationen über einsatzbereite Technologien, aber auch über Standards, Vorschriften und Gesetze seien willkommen. Das könnte heißen, dass ein „Consulting“ in allen möglichen Formen viel vermag. Fragt sich nur, wer dieses Consulting leisten sollte: öffentliche Forschungszentren oder Privatfirmen, etwa im Auftrag von Luxinnovation? Dass ein Bedarf dieser Art zu viel versprechenden praktischen Entwicklungslösungen führen kann, zeigt das von der Handwerkskammer und dem CRP Henri Tudor 1990 initiierte Centre de technologies d’information pour le bâtiment. Bis Ende der Neunzigerjahre entwickelte es von sämtlichen 2 000 Baubetrieben im Lande nutzbares Internetportal, das nicht nur informatisch gestützte Baustandards enthält, sondern auch von allen Betrieben nutzbare elektronische Lastenhefte, die insbesondere für die Teilnahme an Ausschreibungen für öffentliche Bauten unverzichtbar sind. Vor drei Jahren erwuchs daraus das Projekt BuildIT, das es erlaubt, für ein Bauprojekt eine Datenbank anzulegen, aus der jeder am Bau Beteiligte die seine Arbeit betreffenden Daten abruft und laufend aktualisiert. BuildIT, das nächsten Monat in einer Pilotphase an konkreten Baustellen erprobt werden soll, könnte wegen einer integrierten „intelligenten“ Zuordnung von Einzeldaten zu einem Ganzen womöglich enorme Kosteneinsparungen ermöglichen. In einem nächsten Schritt soll es zu einem Virtual Reality-Werkzeug wachsen.

Aber nicht nur die Frage: „Wer soll worüber forschen und welcher Nutzen für die heimische Wirtschaft soll sich daraus ergeben?“, stellt sich, wenn nächstes Jahr ein weiterer Innovationsbericht und die OECD-Studie vorliegen werden. Öffentliche Förderung muss nicht nur Forschungsprojektfinanzierung, sondern können auch Steuervergünstigungen sein oder Unterstützung von Start-up-Betrieben sein. Auch nach der New-Economie-Euphorie sind Betriebsgründungen gerade im Bereich Informationsverarbeitung und Automatisierung hoch profitabel durch Mitnahmeeffekte im Bereich Forschung und Entwicklung: Es kooperieren Technologiefirmen wie der Simulationssoftware-Entwickler e-XStream mit Goodyear oder die Firma Hitec mit Lösungen zur Satellitensteuerung mit der SES. Diese beiden Kleinbetriebe sind Inkubator-Start ups. Es könnte daher für die öffentliche Hand womöglich sinnvoll sein, die bestehenden Inkubatoren zu erweitern und den Zugang zu Risikokapital zu vereinfachen. Luxinnovation hielt diesen Punkt in seinem Bericht als einen politischen Denkanstoß fest.

Inwiefern die öffentliche Hand eingreifen sollte bei der gezielten Ansiedlung besonders wachstumsträchtiger Branchen ist eine weitere Frage, die sich mit der immer stärkeren Profilierung der öffentlichen Forschungseinrichtungen und nach der Gründung der Uni neu stellt. Dass an der Universität der Bereich Zellforschung eine der acht Schwerpunktachsen bildet, hat damit zu tun, dass die Biotechnologie als eine hier zu Lande vielleicht zu entwickelnde Technologiebranche angesehen wird: die Zahl der Forscher, der Ausstattungsgrad der Labors sowie Art und Umfang der Projekte könnten bereits eine kritische Masse bilden, um ausländische Firmen anzuziehen. Näheres soll eine vom Wirtschaftsministerium in Auftrag gegebene Studie klären.

Zu klären bliebe freilich auch, ob nicht das volkswirtschaftlich bedeutsamste Innovationspotenzial womöglich im Finanzsektor besteht. Denn eigenartig ist es schon, dass Luxemburg bei der Bewertung von Indikatoren zur Innovationsmessung in der Regel mittelmäßig abschneidet, aber dennoch das höchste Pro-Kopf-BIP weltweit hat. Welchen Zusammenhang es gibt zwischen sozialem und materiellem Wohlstand und Innovationskraft in Luxemburg gibt, hat weder die heimische noch die Sozialforschung der EU-Kommission abschließend geklärt. Ein Ansatz zur Erklärung lautet, wegen seiner starken Abhängigkeit vom Bankenplatz träfen auf das Großherzogtum die allgemein in der EU angewandten Innovations-Bewertungskriterien eventuell gar nicht zu. 

 

Peter Feist
© 2023 d’Lëtzebuerger Land