Nach jahrzehntelangem Stillstand wurden binnen eines Jahres zwei große Bibliotheken eröffnet

Geistesfreiheit und Polstersessel

d'Lëtzebuerger Land du 04.10.2019

Dass es so lange gedauert hatte, bis die Nationalbibliothek vom Ale Kolléisch im Schatten der Kathedrale in einen Neubau auf dem Kirchberg, gleich neben der Deutschen Bank und den Unternehmensberatern von KPMG, umziehen konnte, führte Direktorin ­Monique Kieffer am Montag darauf zurück, dass stille Bücher, Literatur und Bibliotheken es in der Gesellschaft des Spektakels und der Eventkultur schwer haben, sich Gehör zu verschaffen. Vielleicht untermalte die Bibliothek deshalb eine kurze Selbstdarstellung für die Gäste der Einweihungsfeier mit der aufpeitschenden Musik, zu der sonst Hollywood-Helden in den Krieg ziehen.

Die Nationalbibliothek konnte nun ihren über sieben Lager in der Stadt verstreuten, teilweise in Bananenkartons untergebrachten Bestand von schätzungsweise 40 laufenden Regalkilometern an einem einzigen Standort versammeln, so dass sie besser gelagert und für Leser und Bibliothekare leichter zugänglich sind. Der Neubau verfügt über 470 Sitzgelegenheiten, rund 100 Computerposten, Kopierer, Drucker und Mikrofilmleser, Konferenzsäle, Arbeitsräume, ein Musikzimmer, ein weihevolles Arbeitszimmer für die Leser von Zimelien, einen Ausstellungssaal, ein Café und ein Kinderzimmer, aber keine Buchbinderwerkstatt.

Zwar reden sich alle Beteiligten ständig selbst ein, dass das gedruckte Buch noch eine lange Zukunft vor sich habe, doch sind die Leseräume und ihre Regale so eingerichtet, dass sie ohne große Arbeiten umgebaut werden können, falls die Leser in vielleicht zehn oder 15 Jahren die Lust an den gedruckten Büchern verloren haben. Die Natio­nalbibliothek hat zahlreiche digitale Fachzeitschriften abonniert und digitalisiert energisch ihren historischen Zeitungsbestand. Als politische Altlast musste ein Gebäudeteil für das Großherzogliche Institut reserviert werden, einen aus dem 19. Jahrhundert geerbten Altherrenclub.

Droit judiciaire privé Wo die Bibliothek lange lieber kontrollierte, wer was las, und in den Lesesälen des Ale Kolléisch sowieso der Platz zur Selbstbedienung fehlte, können die Leser nun rund 200 000 Bücher ohne Vorbestellung und Wartezeit selbst aus den Regalen nehmen und lesen oder an Automaten abmelden und mit nach Hause nehmen – zumindest wenn es nach 1900 erschienene Titel sind. Ohne Vorbestellung direkt zugänglich sind auf diese Weise 57 000 Bücher zu Literatur und Sprachen, 49 000 Bücher zu Sozialwissenschaften, Philosophie und Reli­gion, zu denen auch das Chamberbliedchen gehört, 20 000 Kunstbücher, 18 000 Geschichts- und Geographiebücher, 14 000 technische, 6 500 naturwissenschaftliche und mathematische Bücher sowie 3 000 Zeitungen und Zeitschriften. In den Regalen ist noch Platz, um langfristig vielleicht einmal 300 000 Titel für die Selbstbedienung einzustellen.

Fast seit ihren Anfängen pflegt die Nationalbibliothek zwei organisatorisch, personell und auch in den Katalogen streng getrennte Bereiche: die Bücher aus der großen, weiten Welt und die zum Kulturgut gezählten und inzwischen auch als Pflichtexemplare gesammelten Luxemburger Bücher. Die Bibliothek nennt es ein wichtiges Zeichen, dass zumindest im Freihandteil luxemburgische Bücher zusammen mit ausländischen Büchern nach den Sachgebieten eingeräumt und nur durch das Präfix LU als solche erkennbar sind, wobei die Dewey-Klassifizierung aber den Benutzern Luxemburger Bücher das Leben nicht unbedingt erleichtert. Durch den Verzicht auf eine Luxemburgensia-Ecke würden die heimische Fachliteratur und Belletristik als gleichwertig mit der ausländischen aufgewertet und so Teil eines „intellektuellen Dialogs“, meinte Direktorin Monique Kieffer.

Die nunmehr grüne Bauverwaltung legte vor allem Wert darauf, dass das Gebäude möglichst wenig Energie zur Klimatisierung und Beleuchtung braucht – aber vielleicht um so mehr für die Informatik. Aus diesem Grund sind die nicht-öffentlichen Buchmagazine und angegliederten Dienste in einem Betonblock innerhalb des Gebäudes ohne Kontakt zu den Außenwänden untergebracht, was allerdings auch zur Folge hat, dass die Bibliotheksangestellten dort in einem fensterlosen Betonbunker arbeiten müssen.

Die Öffnungszeiten wurden leicht verlängert, abends bis 20 Uhr, die Bibliothek ist nunmehr auch an Samstagnachmittagen geöffnet, bis 18  Uhr. Ausgeliehene Bücher können, selbst wenn die Bibliothek geschlossen hat, an einem Automaten in der Außenfassade des Gebäudes abgegeben werden.

Vergangenes Jahr zählte die Nationalbibliothek nach eigenen Angaben 1,8 Millionen Bücher und Zeitschriften, aber auch CD, DVD, Postkarten, Plakate, Pläne, Landkarten und Handschriften. Etwa ein Viertel ihrer Druckwerke sind Luxemburger Ursprungs. Sie wurde am meisten von 2 264 im Ausland Studierenden, von 1 748 Studenten der Uni Luxemburg, 2 043 Sekundarschülern, 2 463 Arbeitern und Angestellten sowie 1 782 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes genutzt.

Das meistgeliehene Luxemburger Buch war erneut Thierry Hoscheits Le droit judiciaire privé au Grand-Duché de Luxembourg, ein 2012 erschienener und mit 198 Euro überteuerter Abriss der Gerichtsprozeduren für alle Jura-Studenten und angehenden Rechtsanwälte. Neben der möglichst vollständigen Sammlung von Luxemburgensia versteht die Nationalbibliothek sich als wissenschaftliche Bibliothek. Sie zieht aber auch Leser ohne wissenschaftliche Ansprüche an, denn an der Spitze der meistgeliehenen ausländischen Bücher stand vergangenes Jahr der Reiseführer Le guide du routard für Ägypten.

Der grüne Bauten- und Mobilitätsminister François Bausch freute sich bei der Eröffnung, wie energieeffizient das Gebäude sei und dass die Straßenbahn vor dem Eingang halte. Seine Parteikollegin, Kulturministerin Sam Tanson, schwärmte davon, welche Freude ihr als Kind Bücher bereiteten, wie viele Kinder am Samstag in der Stadtbibliothek waren, und wie sie als Studentin in der Universitätsbibliothek juristische Literatur benutzte. Schön fand sie, dass die Rechts- und Wirtschaftsstudenten der Universität nur eine Straßenbahn-Haltestelle entfernt von der Nationalbibliothek studierten, die gerade eine Konvention mit der Universität unterzeichnet habe, um die entsprechende Literatur anzubieten. Das Buch sei nicht tot, betonte die Ministerin, denn das geschriebene Wort sei nötig im Kampf gegen Populismus und Falschinformationen und zugunsten gemeinsamer Werte der Offenheit, weil das Buch auch zu reisen erlaube.

Beim Versuch, den Klerikalen eins auszuwischen, hatte Xavier Bettel einmal stolz gemeint: „Im Gegensatz zu anderen Parteien berufen wir uns nicht auf ein jahrtausendealtes Buch“ (The European, 9. April 2014). Tatsächlich scheint seine DP eher die Partei der Buchhalter zu sein. Der Premierminister nahm am Montag an der Eröffnungsfeier der neuen Nationalbibliothek teil, aber als höchster Regierungsvertreter hielt er es nicht für nötig, das Wort zu ergreifen und sich vielleicht zu den Idealen von Bildung, Kultur und Aufklärung zu bekennen. Er weiß, dass man sich antiintellektuell geben muss, um modern und volkstümlich zu sein, dass man nicht grübeln und kritisieren, sondern der Technik, dem Markt und Twitter blind vertrauen soll. Deshalb verstehen die meisten Vertreter seiner liberalen Koalition, die am Montag in der ersten Reihe saßen, „Kulturindustrie“, wenn sie von Kultur hören: Film Fund, Creative Cluster, Virtual Reality... Denn anders als Museen und Konzertsäle scheint eine Bibliothek kein Standortvorteil für Touristen und Expats zu sein.

Abwasserkanal Weil ein Abwasserkanal verstopft war, war am Nachmittag des 25. Juli Wasser in das fünfte Untergeschoss des Parkhauses unter dem Heilig-Geist-Plateau gelaufen, dort, wo das Staatsarchiv aus Platzmangel provisorisch Dokumente aus verschiedenen Fonds und Zeitungen lagert. Dabei wurden zwischen 750 und 1 000 laufende Meter Dokumente beschädigt. Ein Teil von ihnen wurde in die Kühlräume einer Lebensmittelgroßhandlung gebracht, um getrocknet und repariert zu werden, andere sind unwiederbringlich zerstört. Doch anders als im Frühjahr, als auf dem Limpertsberg einige Reihenhäuser aus der Zwischenkriegszeit abgerissen werden sollten, scherte sich kein Abgeordneter um den Schaden, auch von der Kulturministerin und bekennenden Denkmalschützerin war keine Äußerung zu hören. Im Sommer 2004 war Regenwasser in eine Bartringer Lagerhalle eingedrungen, wo das Staatsarchiv und die Nationalbibliothek provisorisch Dokumente, Mikrofilme und sogar Zimelien aufbewahrten.

Anders als ältere Immobilien genießt das geistige Erbe, das geschriebene Kulturgut hierzulande so wenig Ansehen, dass sogar die Begriffe fremd wirken. Darüber kann nicht einmal hinwegtäuschen, dass nun innerhalb eines Jahres zwei große Bibliotheken in Luxemburg und Esch-Belval eingeweiht wurden. Denn als am Montag alle Redner ihr Entzücken über den neuen Bibliotheksbau ausdrückten, wollte sich niemand daran erinnern, dass der stets für dringlich erklärte Bau nicht nur fast 30 Jahre lang verschleppt worden war, sondern dass auch nacheinander drei christlich-soziale Kulturminister, Erna-Hennicot-Schoepges, François Biltgen und Octavie Modert, eine Serie von Fehlplanungen verantworteten, die auf Kosten der Leser, Beschäftigten und Buchbestände der Nationalbibliothek gingen und die Steuerzahler Millionen an Umbaukosten, unnützen Architektenhonoraren und Mieten für provisorische Lager kosteten:

1989 befasste die Regierung eine interministe­rielle Arbeitsgruppe mit dem Ausbau des Ale Kol­léisch, wo die Nationalbibliothek seit 1973 untergebracht war.

1995 forderte der Karlsruher Bauingenieur und Bibliothekar Rolf Fuhlrott, dass die Nationalbiblio­thek umzieht, denn „der Zerstörungsprozess des wichtigen Kulturgutes unter diesen Aufbewahrungsbedingungen ist unaufhaltsam, wenn nicht bald Abhilfe geschaffen wird“.

1998 wurde deshalb ein Gesetz über den Bau einer 967,51 Millionen Franken teuren Zweigstelle der Nationalbibliothek am Boulevard Kennedy auf dem Kirchberg verabschiedet. LSAP-Berichterstatter Jos Scheuer warnte: „Il y a besoin, il y a urgence!“ Der Keller am Boulevard Roosevelt wurde für 93 Millionen Franken umgebaut, worauf ein laufender Kilometer Bücher Schimmel ansetzte und unbenutzbar wurde.

2002 stoppte die Regierung die Ausführung des Gesetzes, weil die Aufspaltung einer doch vergleichsweise kleinen Bibliothek in zwei Bibliotheken, am Boulverad Roosevelt und auf dem Kirchberg, unsinnig sei.

2003 gewann die Münsteraner Firma Bolles-Wilson den Architektenwettbewerb, um nach dem Auszug der Europabeamten das ­Schuman-Gebäude auf dem Kirchberg für 149 Millionen Euro zu einer Nationalbibliothek umzubauen.

2004 stoppte die Regierung die Umbaupläne des Schuman-Gebäudes, weil sie zu teuer würden. Dann wurde erneut die Aufspaltung der Nationalbibliothek erwogen, aber auch ihre Verlegung nach Esch-Belval als vereinigte Bibliothèque na­tionale et universitaire (BNU).

2011 brachte die Regierung statt der BNU einen Gesetzentwurf ein, um eine Universitätsbibliothek für 59,5 Millionen Euro in Esch-Belval zu errichten.

2013 brachte die Regierung einen Gesetzentwurf ein zum Bau einer neuen Nationalbibliothek für 112,2 Millionen Euro auf dem Kirchberg, nun wieder am Boulevard J.F. Kennedy. Der Auftrag ging ohne Ausschreibung an die Gewinner des Architektenwettbewerbs von 2003, Bolles und Wilson.

Die ebenso abenteuerliche Geschichte eines Neubaus in Esch-Belval für das seit 1968 in der ehemaligen Kaserne auf dem Heilig-Geist-Plateau untergebrachte Staatsarchiv ist bis heute nicht zu Ende.

Luxembourg Learning Center Für die Benutzer ähnelt der Neubau der Nationalbibliothek stark dem Innern der im September vergangenen Jahres eingeweihten Universitätsbibliothek in Esch-Belval, abwechselnd Maison du livre und Luxembourg Learning Center genannt: Beide Bibliotheken sind auf mehrere offene Stockwerke verteilt, sie bieten die gefragtesten Werke als Freihandbibliotheken und wollen mit ihrem Mobi­liar statt riguroser Arbeitsethik behagliche Wohnzimmeratmosphäre ausstrahlen. Doch Architektur ist nicht alles. Wer in der Belvaler Bibliothek über die ausladenden Treppen und den flauschigen Teppichboden an den großzügigen Sitzecken, eleganten Designmöbeln und leicht schummrigen Stehlampen vorbei bis hinunter zum Bereich Politik steigt, muss überrascht feststellen, wie eng sich die Auswahl der wenigen Bücher auf konservative bis liberale Mainstream-Literatur zur politischen Theorie und zur politischen Geschichte einzelner Länder und Regionen beschränkt. Der Bestand in den Bereichen Philosophie oder Ökonomie ist zwar einige Regalmeter länger, aber kaum weniger dogmatisch. Die Beschaffung der Bibliothek hängt sicher eng mit dem Auftrag und dem Studienprogramm der Universität zusammen, doch in der Tradi­tion eines alten, aber unsterblichen Luxemburger Modells bietet das Luxembourg Learning Center statt Geistesfreiheit und kritischem Denken behagliche Polstersessel an.

Die lange katholisch-konservativ geprägte Natio­nalbibliothek ist dagegen weit pluralistischer als die Universitätsbibliothek. Bei ihrer Eröffnung definierte Gastredner Roly Keating, der Direktor der British Library und Präsident der Konferenz der europäischen Nationalbibliotheken, noch einmal ihren Auftrag in Zeiten der gewerblichen Informationsflut: „This is an environment in which national libraries have a unique and vital role, both symbolic and practical, as spaces where the timeless values of libraries – of free enquiry, independent thought, open creativity and the patient acquisition of knowledge – are expressed at the highest level of national commitment, and which our users know to be sanctuaries of unbiased access to the information they need, delivered by professionals they can absolutely trust.“

Dienstags bis freitags von 10 bis 20 Uhr geöffnet, samstags von 10 bis 18 Uhr auf 37D, avenue John F. Kennedy, Einschreibung kostenlos, Bestands- katalog: www.a-z.lu oder https://catalog.bibnet.lu

Romain Hilgert
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