Woyzeck

Private Woyzeck 2008

d'Lëtzebuerger Land du 22.05.2008

Ein hockender Affe im Zentrum der Bühne – apathisch schottet er sich von dem Geschehen ringsum ab. Franz Woyzeck, der Gorilla, wie im Zoo ausgestellt, unbeweglich, stumm, Opfer und Mörder zugleich, den Gesetzen des Determinismus unterlegen. Alkoholismus, Soldatentum, medizinische Willkür und die Misere der Arbeiterklasse prägen sein Dasein. Die Anlehnung an Kafkas Sozialisierungs-Groteske Ein Bericht für eine Akademie ist nicht zu übersehen.

Peter Oppermanns Inszenierung Woyzeck nach dem gleichnamigen Fragment von Georg Büchner feierte am Montag Premiere im Kapuzinertheater. Das frühlingshafte Wetter gönnte dem Ensemble kein volles Haus. Der Qualität der Inszenierung sollte dies jedoch keinen Abbruch tun. Ganz im Gegenteil: Die Trierer Produktion in Zusammenarbeit mit dem Kapuzinertheater und der  Fachhochschule Trier bot Abwechslung und berücksichtigte die gesellschaftlichen Umstände des Vormärz, ohne die bemerkenswerte Aktualität des unvollendeten Dramas zu vernachlässigen.

Das Fragment, das in seinem Aufbau an die Fetzenszenen des Sturm und Drang erinnert, fand einen angenehmen Rhythmus, mit spannungsgeladener Handlung und nachdenklichen Redepausen, in denen vor allem die Hauptdarsteller Paul Steinbach (Franz Woyzeck) und Sabine Brandauer (Marie) schauspielerisch glänzten. Während Steinbach die mimische Gratwanderung zwischen kindlicher Melancholie und bulliger Brutalität überzeugend bewältigte, wurde Brandauer der Herausforderung gerecht, ihre Figur zwischen gebrandmarkter Ehebrecherin und frivoler Lebefrau anzulegen. Die Geschichte um den gedemütigten Soldaten Woyzeck, der seine Freundin Marie, mit der er ein uneheliches Kind hat, aus Eifersucht ermordet, nahm ihren Lauf.

Auch Fabian Joel Walter als Furcht einflößender Narr, Klaus-Michael Nix als skrupelloser Arzt oder Manfred-Paul Hänig als Hauptmann setzten der darstellerisch bemerkenswerten Bühnenfassung ihren Stempel auf. Was aber machte das Besondere an Oppermanns Bearbeitung aus?

Im Kleinen wie im Großen bemühte sich der Regisseur inhaltlich und formal, die Aktualität aus Büchners Vorlage auszuschöpfen. Gerade die bereits erwähnte deterministische Grundpo­sition, die besagt, dass der soziale Status eines Menschen von Geburt an vorbestimmt ist, machte er sich zu Nutze. So wurden einige Szenen in die Gegenwart verlegt und massen­gesellschaftliche Phänomene wie die „Geiz ist geil“-Mentalität (Aldi-Tüten), medialer Voyeurismus und Exhibitionismus (Talkshow-Sitzordnung und Publikumsreaktionen), letztlich die gnadenlose Maschinerie militärischer Zucht veranschaulicht. Diesbezüglich wurde besonders Woyzecks physische und psychische Ähnlichkeit zu Private Paula aus Kubricks Full Metal Jacket offensichtlich: kahlrasierter Schädel, explosiver Kern, mitleidig-wahnerfüllte Mimik. Die bekanntermaßen grotesken Züge von Büchners Werk etwa in den Dialogen zwischen den moralisierend unmoralischen Vertretern des Establishments (Hauptmann und Arzt) übersteigerte Oppermann, indem er den betrunkenen Protagonisten blutbeschmierte Stoffpuppen aus einem Einkaufswagen in den Arm legen ließ. Erlaubte zu Büchners Zeiten der Alkohol das Leid zu vergessen, so antizipierte diese Inszenierung die Flucht in die Konsumgier als vermeintliche Alternative zu einem erfüllten Leben: eine Droge, die wir mit unserem Verhalten an unsere Kinder weiterreichen.

Die auffälligste Eigenart der Trierer Inszenierung war jedoch die musikalische Begleitung des Sängers Michael Kiessling mit seiner Live-Band. Mit bewegenden Liedern aus der Feder der Kult-Liedermacher Tom Waits, Nick Cave und Bob Dylan untermalte der Berliner die dramatische Handlung mit seiner Waits-ähnlichen Raucherstimme. Teils angepasst, teils antithetisch-zynisch zu Woyzecks Schicksal erklangen Titel wie Misery is the river of the world (Waits), Where the wild roses grow (Cave) oder Death is not the end (Dylan). Dylans milder Trost auf ein besseres Leben im Jenseits wirkte zynisch angesichts des Elends, in dem die Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts dahinvegetierte.

Mögen auch einige Zuschauer in den vorderen Reihen an der Lautstärke der Band Anstoß genommen haben, so zeigte diese musikalische Komponente mitsamt anderer stilistischer Merkmale, welch hohes Potenzial selbst 171 Jahre nach Büchners Tod im Werk des Dichters steckt. Oppermanns intertextuelle Inszenierung erwies sich weitestgehend als großer Wurf, dem man jedoch etwas mehr Anklang gewünscht hätte. 

Keine weiteren Vorführungen. Informationen unter www.theater-trier.de

Claude Reiles
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