In sechs Wochen beginnt das „europäische Semester“

Budgetpolitik mit Fernsteuerung

d'Lëtzebuerger Land vom 11.11.2010

Anfang Dezember soll das Parlament den Staatshaushalt für 2011 diskutieren und verabschieden. Doch wenn es mit rechten Dingen zugeht, müsste es sich im Januar dann schon mit dem Staatshaushalt für 2012 beschäftigen. Denn dann beginnt das „europäische Semester“, die nach der Schuldenkrise einzelner Euro-Staaten vom Rat der EU-Finanzminister am 7. September in Brüssel beschlossene neue Prozedur zur engeren Koordinierung der Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Brüsseler Kommission legte inzwischen einen Vorschlag zur Abänderung der Verordnung über den „Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung“ vor, welche die Prozedur zwingend macht.

Während des „europäischen Semesters“ sollen künftig die Europäische Kommission und der Ministerrat Vorgaben über die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten machen, bevor die nationalen Parlamente die Budgetpolitik beschließen. Für Luxemburg bedeutet das, dass jeweils im Januar die Kommission in einem Jahreswachstumsbericht die „wirtschaftlichen Herausforderungen“ festlegt. Im Februar verabschiedet der Ministerrat dann die von der Kommission vorbereiteten wirtschaftlichen Leitlinien, und Luxemburg hat dann nur noch bis Ende April, statt bis Ende des Jahres, Zeit, um sein Stabilitäts- und Konvergenzprogramm zu aktualisieren und nach Brüssel zu schicken, wo eventuelle Änderungen verlangt werden können. Die Kommission bereitet dann Leitlinien vor, die Anfang Juli vom Rat verabschiedet werden sollen und vorschreiben, wie die Budgetpolitik für das Folgejahr auszusehen hat und welche Reformen, etwa der Renten, in einem vorgegebenen Zeitrahmen Gesetz werden müssen. Auf dieser Grundlage bereitet die Regierung dann einen Haushaltsentwurf vor, der im Oktober im Parlament deponiert und im Dezember von der Kammer verabschiedet werden soll – bevor er im Januar im nächsten Jahreswachstumsbericht der Kommission bewertet wird.

Über die politischen und die organisatorischen Folgen des europäi­schen Semesters wurde sich hierzulande noch nicht viele Gedanken gemacht (d’Land, 14.5.), auch wenn es in sechs Wochen beginnen soll. Die Regierung scheint bemüht, keine Debatte über das Thema loszutreten, um so mehr als die Regierung sich manchmal rühmt, dass sie das „europäische Semester“ eigentlich während des Luxemburger Ratsvorsitzes 2005 erfunden habe. Und Premier Jean-Claude Juncker vertritt als Sprecher der Eurogruppe orthodoxe Positionen, die für die nationale Budgetpolitik manchmal hinderlich sein können. Deshalb wird das Thema als ein Problem heruntergespielt, das vor allem Griechenland, Irland und andere hoch verschuldete Staaten angeht.

Hinzu kommt, dass ein Teil der Budgetvorbereitungen nun wieder vorverlegt werden sollen, nachdem sie 2004 vom Sommer in den Herbst verschoben worden waren, damit „der Haushalt näher an der Wirklichkeit des Augenblicks gebracht“ werden kann, wie sich der Berichterstatter und heutige Ausschussvorsitzende Michel Wolter (CSV) freute. Damals hatte die Regierung darauf reagieren wollen, dass sie das Platzen der Internetblase verschlafen hatte, und seit der Finanzkrise von 2008 sind selbst kurzfristige Konjunkturaussichten ungewiss.

Während der Begutachtung des Haushaltsentwurfs für nächstes Jahr schlug der Direktor des Schatzamts, Georges Heinrich, dem parlamentarischen Finanz- und Budgetausschuss vor, sich im Januar zu treffen, um über die neue Prozedur zu sprechen. Was wohl nicht zu früh ist, da die Finanzminister im September beschlossen hatten, dass „die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die notwendigen Verfahren eingeführt werden, um den betreffenden Vorschriften ab 2011 nachzukommen“.

In den vergangenen Tagen wurde auch erste Kritik an dem Verfahren laut, bei dem das gewählte Parlament Gefahr läuft. nur noch EU-Vorgaben ratifizieren zu dürfen. Präsident Jean-Claude Reding wunderte sich am Dienstag nach der Sitzung des OGB-L-Nationalvorstands darüber, dass es nun kurzfristig ohne jegliche Diskussion eingeführt werden soll. Weil die Haushaltspolitik eines der elementaren Hoheitsrechte ist, warnte er, „die Politik“ sei gerade dabei „sich selbst zu kastrieren“.

Am 26. Oktober hatten OGB-L und LCGB bereits über ihr gemeinsam betriebenes europäisches Sekreta­riat an sämtliche im Parlament vertreten Parteien geschrieben und davor gewarnt, dass die vorgeschlagene Wirtschaftspolitik unvereinbar mit den sozialen und ökologischen Kriterien der Lissabon-Strategie sei. Die neue Prozedur werfe zudem „wichtige Fragen über die demokratischen Regeln in den Staaten der Gemeinschaft“ auf. Zur Untermauerung ihrer Thesen legten sie eine umfangreiche Resolution des Europäischen Gewerkschaftsbunds bei, in der weniger der Versuch einer wirtschaftspolitischen Absprache als vielmehr die Ausrichtung auf den Konkurrenzkampf zwischen den Staaten und vor allem eine „koordinierte Nachfragekontraktion“ und „Deflationspolitik“ abgelehnt wird, wo statt der Währung nunmehr die Löhne abgewertet werden sollen. Aber auf ihre Bitte um einen Meinungsaustausch über die Folgen der neuen Budgetregelen hat bisher noch keine Partei geantwortet, klagte Reding am Dienstag.

Der OGB-L und wohl auch der LCGB werden am 15. Dezember am europaweiten Gewerkschaftsprotest gegen die europaweite Politik mit einem „großen Event“ teilnehmen. Angesichts des Schweigens im Parlament stellten, so Reding, die Gewerkschaften mittlerweile die einzige Opposition im Land dar.

Romain Hilgert
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