LSAP

Hü und hott

d'Lëtzebuerger Land vom 17.09.2009

Der frisch gewählte Generalsekretär der Partei, der Wiltzer Bürgermeister Romain Schneider, hatte im Herbst 2006 die erste nach französischem Vorbild gegründete Sommerakademie der LSAP in seine Heimatstadt eingeladen. Dort sollten die Sozialisten zwei Tage lang über das Tagesgeschäft hinaus beraten, wie es mit der „Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert“ weitergehen soll. Eine Antwort hatten sie offensichtlich nicht gefunden. Denn die vierte Sommerakademie der LSAP soll an diesem Samstag im Remicher Fortbildungszentrum der Salariatskammer eine Antwort auf die fast gleiche Frage, „Welche Zukunft für die Sozialdemokratie?“, suchen. Der mit einem der drei Workshops betraute Parteihistoriker und ehemalige Fraktionssprecher Ben Fayot will sogar die etwas demotivierende Frage aufwerfen: „Droht den Luxemburger Sozialisten ein Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit?“

Parteipräsident Alex Bodry hatte Anfang des Monats an einer Präsidiumssitzung der Europäischen Sozialistischen Partei in Brüssel teilgenommen. Dort wurde die Bilanz der Europawahlen gezogen, und das Ergebnis war ernüchternd: Insgesamt ist die sozialdemokratische Fraktion in Straßburg um 35 Sitze geschrumpft. In 17 von 27 Mitgliedsstaaten verloren die Sozialisten Stimmen. In fast allen großen EU-Staaten waren sie die großen Wahlverlierer. Ein Paradox wurmte die europäischen Kameraden in Brüssel am meisten: Die Sozialdemokraten verloren die Wahlen zu einem Zeitpunkt, da sozialdemokratische Politik wieder voll in Mode war. Jahre lang sahen sie angesichts des Triumphzugs des Neoliberalismus ziemlich alt aus, kapitulierten schließlich und schworen zunehmend auf liberale Rezepte. Doch seit fast überall in Europa der Staat keynesianistische, antizyklische Konjunkturprogramme beschließt, seine Schulden erhöht und Banken verstaatlicht, haben die Sozialdemokraten das heimliche Gefühl einer historischen Revanche. Bloß die Wähler sehen das nicht unbedingt so.

Deshalb sei die LSAP auch „nicht mit ihrem Ergebnis vom 7. Juni zufrieden“, so Alex Bodry. Denn mit landesweit 21,56 Prozent erzielte die LSAP bei den Kammerwahlen ihr schlechtestes Ergebnis seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Auch bei den Europawahlen verlor die Partei, die heimlich ihren vor zehn Jahren verlorenen zweiten Sitz wiederzuerlangen gehofft hatte.

Am größten war der Rückgang im industriellen Südbezirk. Dort verlor die LSAP vier Prozentpunkte und einen Parlamentssitz. In dieser tradi­tio­nellen Hochburg der Sozialisten und der Gewerkschaftsbewegung bekommt die CSV seit zehn Jahren mehr Stimmen als die LSAP und vergrößerte diesmal ihren für die traditionsbewussten Sozialisten demütigenden Vorsprung auf sieben Prozentpunkte. Nur in vier Südgemeinden gewann die LSAP Stimmen hinzu, in 21 verlor sie deren, beschreibt Bodry das Ausmaß des Desasters.

Das hat wohl nicht nur mit dem christlichsozialen Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker im Süden zu tun, sondern auch damit, dass sich in den Wahlbezirken, im ländlichen Norden und Osten, im proletarischen Süden und im Mittelschichten-Zentrum, die soziale Zusammensetzung angleicht. Die Zahl der „absoluten Hochburgen“, der Gemeinden, wo die LSAP über 40 Prozent der Stimmen erzielte, ging von drei im Jahr 2004 auf eine – sein Düdelingen – zurück, so Bodry, doch gleichzeitig nahm auch die Zahl der „absoluten Tiefpunkte“, der Gemeinden, wo die Sozialisten keine zehn Prozent erreichten, zurück. In den größeren Städten verlor die LSAP, in den ländlichen Gemeinden gewann sie dagegen. Da kann sie sich als regierende Partei auch nicht viel dafür kaufen, dass für Bodry die Wahlen „in der Parlamentsgeschichte einmalig“ waren, weil erstmals „keine im Parlament vertretene Oppositionspartei hinzugewann“.

Trotzdem hatten die europäischen Kameraden Anfang des Monats in Brüssel Grund genug, neidisch auf die LSAP zu sein. Immerhin sind die Sozialisten in Luxemburg noch immer mit Abstand die zweitstärkste Partei im Land und weiterhin an der Regierungsmacht beteiligt. In Frank­reich sind die Sozialisten dagegen so zerstritten, dass sie handlungsunfähig sind. In Deutschland läuft die SPD laut Umfragen Gefahr, bei den Parlamentwahlen Ende dieses Monats elf Prozentpunkte zu verlieren. In Italien, Großbritannien und nun auch Spanien sieht es nicht viel besser aus.

Für die LSAP steht dagegen fest, dass ihre Regierungspolitik am 7. Juni nicht desavouiert wurde wie diejenige der DP vor fünf Jahren. Bei den Wahlen habe, so Bodry, mit Veränderungen von höchstens um die zwei Prozent pro Partei „keine Wechselstimmung“ geherrscht, „keine Wechselwahl“ stattgefunden. Die sozialistischen Spitzenkandidaten hätten sich in den vier Bezirken bewährt und hervorragende persönliche Ergebnisse erzielt. Dass es trotzdem nicht zu mehr reichte, führt er auf eine vor allem im Süden spürbare „ungünstige Grundstimmung“ zurück, die sich aus der „Summe kleiner Unzufriedenheiten“ ergab: Indexmanipula­tion, Autosteuer, Promillegrenze...

Aber in Wirklichkeit fand die Wahl in der tiefsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten statt. Und die Sozialisten, deren Geschäftsfundus, anders als ihr Name vielleicht  vermuten ließe, längst nicht mehr der Sozialismus, sondern die Verteidigung des über Generationen aufgebauten Sozialstaats ist, verpassten – wie in vielen anderen europäischen Ländern – ihr Rendez-vous mit der Geschichte: Ihre traditionelle Wählerschaft, die der Partei schon beim Referendum 2005 die Gefolgschaft aufgekündigt hatte, traute der LSAP nicht mehr zu, der alleinige und  wichtigste Garant für die Unversehrtheit des Sozialstaats zu sein.

„Relativ dramatisch“ gingen am 7. Juni die Listenstimmen zurück, um rund 30 Prozent im Süden und zehn Prozent im Zentrum, wie Bodry vorrechnete. Diese Verluste waren unter dem Strich nicht auszugleichen, weil der Anteil der persönlichen Stimmen konstant blieb. Der Rückgang der Listenstimmen aber ist ein deutliches Symptom. Er drückt einen Rückgang der politischen Loyalität der Wähler aus, die sich weniger mit der Politik als mit den Politikern der Partei identifizieren. Das ist zwar ein allgemeiner Trend bei allen Parteien – aber dadurch wird das Problem der LSAP nicht gelöst, dass ihr politisches Profil diffus und schwer erkennbar geworden ist. Ähnlich lässt sich wohl auch erklären, dass die LSAP bei den Kommunalwahlen 2005 stärkste Partei in den Proporzgemeinden wurde, bei den Kammerwahlen aber seit 1989 zurückgeht: Auf der Lokalebene sind die ideologischen Unterschie­de gering und populäre Kandidaten um so wichtiger.

So steht die Partei dann auch etwas ratlos vor den Umfrageergebnissen über die Wählerwanderungen: Im Südbezirk sei die Hälfte der verlorenen Stimmen an die Linke und die KPL gegangen, die andere Hälfte an CSV, DP und Grüne. „Den einen waren wir nicht links genug, den anderen waren wir zu links“, wundert sich Bodry. Eines jener Paradoxa, die man wohl nur auf einer höheren Ebene lösen kann und entscheidet, dass die Antwort richtig, aber die Frage falsch war.

Ähnlich widersprüchlich scheint folglich die Aufgabe, die Parteipräsident Alex Bodry vorgibt: „Die Stammwähler binden und sich für neue Schichten öffnen“. Der typische LSAP-Wähler sei laut Meinungsumfragen dieses Jahr ein Lohnabhängiger zwischen 40 und 60 Jahren gewesen. Für Jugendlichen sei die Partei weniger interessant gewesen, Rentner hätten wohl lieber konservativ gewählt. Das Verhältnis zwischen LSAP-Wählern und -Wählerinnen sei ziemlich ausgeglichen gewesen.

Geht die LSAP davon aus, dass ihre Stammwählerschaft Arbeiter, Eisenbahner und nicht zu den Grünen abgewanderte Lehrer sind, daneben ein Teil Angestellte und Verwaltungsbeamte, fragt sich, wer die neuen Schichten sein sollen. Schließlich war der Versuch, in die „neue Mitte“ vorzudringen, bereits einmal mit dem Spitzenkandidat Robert Goebbels gescheitert, der einen Wahlkampf lang aus der Arbeiterpartei eine ­LS@P gemacht hatte.

Versucht Bodry sich also angebots­orientiert, gibt sich der neue Frak­tionssprecher Lucien Lux resolut links. Und das Steckenpferd der Linken ist die Bündnispolitik. Deshalb fragt Lux in seinem Workshop, ohne Angst vor starken Vokabeln: „Braucht die Arbeiterklasse ihre eigene Partei, die sich auf ein revolutionäres, internationales und sozialistisches Programm stützt, oder lassen sich politische Mehrheiten nur noch in der Mitte finden? Wie steht es um das Verhältnis zwischen gemäßigter Sozialdemokratie und radikaleren Linksbewegungen (Annäherung oder Abgrenzung)? Ist eine stärkere Annäherung an die Grünen politisch sinnvoll oder sollte ein umfassendes Linksbündnis ange­strebt werden?“

Doch Bodry, der sich im März nächsten Jahres um eine Verlängerung seines Mandats als Parteivorsitzender bewirbt, hat schon einen Plan: „Erstens die politischen Themen definieren; zweitens die Funktionsweise der Partei modernisieren, um sie für Jugendliche, Frauen und Ausländer attraktiver zu machen; drittens die lokalen Stärken nutzen und viertens über die nächsten zehn Jahre das politische Personal erneuern.“ Daneben will Ben Fayot in seinem Workshop aber auch auf Fragen eingehen wie: „Sind die Folgekosten einer erneuten Regierungsbeteiligung für die LSAP vor dem Hintergrund einer schwierigen öffentlichen Finanzlage kalkulierbar? Wo liegt für die Sozialisten die Grenze des Zumutbaren?“ Obwohl diese Fragen schon beinahe einstimmig von dem außerordentlichen Kongress beantwortet wurden, der Ende Juli über eine erneue Regierungsbeteiligung entschied.

Romain Hilgert
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