Vorrechte des Großherzogs

Nach der Krise ist vor der Krise

d'Lëtzebuerger Land vom 18.12.2008

„Eine institutionelle Krise wurde abgewendet!“ So sprachen am Donnerstag vergangener Woche Parlamentarier jeder politischer Couleur und Justizminister Luc Frieden ebenfalls. Bei nur einer Stimmenthaltung hatte die Abgeordnetenkammer in erster Lesung die Änderung von Verfassungsartikel 34 angenommen, und nun sollte alles wieder ins Lot kommen. 

Halbwegs erfolgreich war nach draußen die Borschaft vermittelt worden, die bevorstehende erneute Abstimmung des Gesetzesvorschlags zur Regelung der aktiven Sterbehilfe habe nichts zu tun mit der Beschränkung der Vorrechte des Großherzogs. Auch das Luxemburger Wort mäßigte sich. Der stellvertretende Chefredakteur Marc Glesener löste Chefredakteur Léon Zeches als Leitartikelschreiber zum Thema ab: Dieser hatte es Anfang Dezember noch „Größe“ genannt, dass eine Institution plötzlich meint, ein Gewissen gegenüber dem Euthanasie-Gesetzesvorschlag haben zu müssen. Glesener dagegen schrieb von einer „politischen Dimension“,  dass die Verfassungsänderung „im Interesse des Landes“ liege und der Großherzog „nur theoretisch an Macht“ verliere, wenn er künftig Gesetzen durch seine Unterschrift nicht mehr zustimmt, sondern nur noch ihre Veröffentlichung anordnet.

Doch seit am Mittwoch, nur sechs Tage nach der ersten Lesung der Verfassungsänderung, ein Zusammenschluss aus fünf Bürgern bei Premier Jean-Claude Juncker beantragt hat, die obligatorische zweite Lesung durch ein Referendum zu ersetzen, um damit die Verfassungsänderung und gleichzeitig das Euthanasiegesetz zu „massakrieren“, droht die institutionelle Krise nicht nur erneut, sondern obendrein in mehreren Spielarten.

„Le Grand-Duc sanctionne et promulgue les lois. Il fait connaître sa résolution dans les trois mois du vote de la Chambre.“ Spräche sich eine Mehrheit für die Beibehaltung des aktuellen Wortlauts von Artikel 34 aus, käme das einem Wunsch der Bevölkerung nach Abschaffung der parlamentarischen Demokratie so nah, dass eine völlige institutionelle Blockade drohte – ganz abgesehen von dem Politikum ersten Ranges, dass in einem Land mit 40 Prozent Ausländeranteil lediglich zu Parlamentswahlen stimmberechtigte einheimische Staatsbürger eine Entscheidung von solcher Tragweite getroffen hätten. 

Aber gleichwie: Anschließend denkbare Szenarien wären nicht nur der Rücktritt der Regierung und Neuwahlen, sondern auch das Ende der Monarchie. Denn eine Mehrheit für den derzeitigen Artikel 34 würde nicht nur diesem eine textuelle Gültigkeit verleihen, von der Staatsrechtler sagen, sie sei selbst 1848 bei Inkrafttreten der eigentlich liberalen Verfassung nicht so gemeint gewesen. Die Frage könnte sich stellen, ob nicht auch andere Abschnitte des Grundgesetzes, an deren Reform der parlamentarische Verfassungsausschuss seit vier Jahren arbeitet, sich buchstabengetreuer verstehen lassen, als es die bisherige Verfassungspraxis nahe legt: Gilt zum Beispiel, könnte man dann fragen, das dem Großherzog laut Artikel 47 zustehende Initiativrecht für Gesetzesvorlagen tatsächlich nur symbolisch, wenn die Bevölkerung mehrheitlich wünschte, dass der Monarch Gesetzen zustimme? Sollte er ihm womöglich nicht genehme Gesetzesvorhaben nicht doch schon ablehnen können, ehe sie auf den Instanzenweg gelangen? Und ist Artikel 46, den vor einer Woche der Staatsrat am besten gemeinsam mit Artikel 34 abzuändern empfahl, nicht doch wörtlich zu nehmen?

„L‘assentiment de la Chambre des Députés est requise pour toute loi“, legt er fest. Aber wieso sollte die Abgeordnetenkammer mehr sein als eine Partnerin im Gesetzgebungsprozess, falls eine Bevölkerungsmehrheit will, dass der Staatschef jedes neue Gesetz ohnehin genehmigen muss?

Wenngleich die Spitzenvertreter der Parteien es ungern kommentieren, hat hinter den Kulissen das Durchdenken von Was-wäre-wenn-Szenarien und von Prozeduren begonnen. Denn würden 25 000 Wahlberechtigte mit ihrer Unterschrift den Referendumsantrag unterstützen, fiele die Abstimmung mit hoher Wahrscheinlichkeit in die nächste Legislaturperiode. Gemäß Verfassungsartikel 114 muss die Unterschriftensammlung für ein Referendum, das die zweite Lesung einer Verfassungsrevision ersetzen soll, zwei Monate nach deren erster Lesung beendet sein. Da die erste Lesung des neuen Artikels 34 am 11. Dezember stattfand, wäre Stichtag am 10. Februar 2009. Weil laut Referendumsgesetz aber je drei Monate vor und nach Wahlen kein Volksentscheid stattfinden darf und am 7. Juni gewählt wird, scheint der letzte Sonntag vor dem 11. September 2009 in rein organisatorischer Hinsicht das realistischere Datum als der letzte Sonntag vor dem 7. März.

Konsequenz davon wäre zum einen ein Wahlkampf für die Wahlen im Juni, der sich auf riskante Weise mit Populismen über die Zukunft der Monarchie mischen könnte. Weil in diesem Fall die CSV an ihrem rechten Rand herausgefordert würde, macht man sich vor allem dort Gedanken über die kommunikative Herausforderung, die ein Referendum mit sich brächte: Wie erklärt man am besten die subtilen Unterschiede von Verfassungstheorie und Verfassungspraxis, wenn dem Monarchen ein Herrschaftsprivileg genommen werden soll, das seit 160 Jahren geschrieben steht und der Wähler die Referendumsfrage leicht als eine Entscheidung für oder gegen den Großherzog missverstehen kann?

Ein Volksentscheid über Artikel 34 würde allerdings auch bedeuten, dass das aus den Wahlen vom 7. Juni hervorgehende neue Kabinett erst nach dem Referendum zur Ruhe käme – sofern eine Mehrheit Ja sagt zu einem explizit von der Legislative stärker getrennten Staatschef. In einer Zeit der Wirtschaftsrezession, von der noch niemand weiß, wie weit sie reichen und wie lange sie dauern wird, ist das nicht die erfreulichste Aussicht. Zumal plötzlich unklare institutionelle Beziehungen zwischen Regierung und Staatschef unter Umständen fatale Auswirkungen haben könnten: Verfassungsartikel 32 ermächtigt den Großherzog – und damit die Regierung –, im Falle internationaler Krisen Notverordnungen zu erlassen, die sich für höchstens drei Monate über geltende Gesetze hinwegsetzen dürfen. Zur Rettung von Fortis und Dexia-Bil im Oktober quasi über Nacht wurde zu diesem Mittel gegriffen. Sollte das noch einmal nötig werden, dann hoffentlich nicht im Moment einer institutionellen Krise.

Könnte Premier Juncker, der bis zum 27. Dezember über den Referendumsantrag befinden muss, nach einer guten Begründung suchen, um ihn abzulehnen – einem höheren nationalen Interesse folgend und alle taktischen Nachteile für die CSV im bevorstehenden Wahlkampf in Kauf nehmend? Vielleicht, aber laut Referendumsgesetz kann der Premier lediglich Formfragen an den Antrag stellen. Schließlich soll die Regierung die direkte Demokratie nicht hemmen. 

Ziemlich ausgeschlossen ist auch, dass plötzlich 16 Abgeordnete das gleiche Referendum beantragen wie das Bündnis um den Differdinger Jeannot Pesché. Ein von mehr als einem Viertel der Parlamentarier beantragtes Referendum kommt ohne Unterschriftensammlung aus und könnte so schneller stattfinden. Allerdings ist der Premier gehalten, den ersten Antrag, der bei ihm einging, zu berücksichtigen, und eine parlamentarische Initiative für ein Referendum existiert allem Vernehmen nach nicht – nur Gedankenspiele in diese Richtung gab es bei der CSV.

Ein Referendum, das im September abgehalten wird, macht auch den Euthanasie-Gesetzeentwurf wieder zum potenziellen Krisenauslöser. Als gestern Nachmittag „Err-Huss“ erneut zur Anstimmung kam, wurden keine Verbesserungen am Text angenommen, die den Gesetzesvorschlag erneut ins Parlament zurück verwiesen hätten. Ebenso wenig verlangte die Abgeordnetenkammer eine weitere Lesung des Gesetzentwurfs, um Zeit zu schinden für Referendum, Verfassungsreform, Unterschrift des Staatschefs und was sonst noch geschehen könnte. Im Unterschied zum Frühjahr dürfte der Staatsrat dem Parlament diesmal folgen, hatte er sich doch in den letzten beiden Wochen mit dem parlamentarischen Gesundheitsausschuss noch über die kleinste Abänderungen am Euthanasiegesetz schriftlich ausgetauscht.

Tritt das so ein, könnte der Großherzog den Euthanasie-Entwurf promulgieren und sanktionieren müssen, ehe über die Verfassungsänderung entschieden ist. Der Staatschef dürfte damit wahrscheinlich zu jenen gehören, die hoffen, dass der Referendumsantrag, der vorgibt, die Monarchie und die Vorrechte des Monarchen retten zu wollen, es nicht auf die erforderliche Zahl von Unterschriften bringt. Denn bliebe die Institution Großherzog ihrem Gewissen treu und unterschriebe „Err-Huss“ nicht, solange sie Signatur gleich Zustimmung  setzt, würde Luxemburg Mitte März entweder den kollektiven Rücktritt der Regierung erleben oder die Abdankung des Großherzogs. Und womöglich fänden Landeswahlen und Europawahlen getrennt voneinander statt. Im heraufziehenden politischen Chaos ist vieles möglich. 

 

Peter Feist
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