Ein Jahr nach den Wahlen ist die Lage der Nation so normal geworden, dass die Regierung sich vor allem mit Krisen herumplagt

Krisenmanagement

d'Lëtzebuerger Land vom 11.10.2019

Seit dem 15. März 2019 verlassen wiederholt Tausende verängstigte und wütende Schülerinnen und Schüler ihre Lyzeen und ziehen mit Spruchbändern und Pappschildern durch die Straßen, um vor Klimaveränderungen zu warnen und mit kindlichem Vertrauen in die zuständigen Autoritäten zu verlangen, dass die Regierung endlich irgendetwas tue. Diese Proteste tragen dazu bei, dass die Sorge um das Klima weit über grüne Hypochonder hinaus in den Alltag breiter Bevölkerungsschichten eindringt. Immer weniger Leute benutzen ohne Schuldgefühl Plastikverpackungen, essen Steaks und Avocados, fahren Auto oder fliegen in den Urlaub, und wenn sie es dennoch tun, werden sie umso nachdrücklicher von ihren Kindern an die Brandrodungen im Amazonas erinnert. Offenbar sind diese um die Klimaentwicklung besorgten Bevölkerungsschichten dabei, so breit zu werden, dass die Klimakrise auch zu einer politischen Krise werden könnte.

Das hat Premierminister Xavier Bettel (DP) erkannt. Nach seiner Teilnahme am Weltklimagipfel vor 14 Tagen widmete er den größten Teil seiner von der Opposition schnell als leeres Geschwätz abgetanenen Erklärung zur Lage der Nation am Dienstag dieser Woche dem „Klimawechsel“ (S. 4). Denn „die Bürger und vor allem die Jugendlichen fordern zu Recht von uns, dass wir handeln, dass wir aktiv werden und uns konsequent dafür einsetzen, die schädlichen CO2-Ausscheidungen zu verringern“ (S. 7).

Um eine aus der Klimakrise erwachsende politische Krise abzuwenden, nahm Xavier Bettel sich der Klimaschützer nach dem Motto „If you can’t beat them, join them“ an. In seiner Regierungserklärung Ende vergangenen Jahres hatte er noch eine glückliche Globalisierung durch „die weitere Stärkung des Erfolgsmodells Luxemburg“ versprochen. Doch nun schreckte er nicht mehr vor drastischen Beschreibungen zurück, die seine dem Markt und dem Einzelnen vertrauende liberale Partei bisher als wenig zweckdienliche Panikmache abgetan hat.

Für den Premier geht es nicht mehr bloß um die fernen „Auswirkungen des Klimawechsels auf die Meere, auf Inseln, auf das Eis in den Polarregionen und die Gletscher“. Er sieht auch die „schlimmen Unwetter und Überschwemmungen der vergangenen Jahre im Ernztal und im Müllerthal“, die „häufigeren Stürme und Überschwemmungen in unserer Gegend“ als Zeichen dafür, dass die „Erderwärmung“ nicht mehr zu leugnen sei und auch hierzulande ihre Folgen trage (S. 5).

Denn „das ökologische System ist vollständig über den Haufen geworfen, die Meere werden wegen Temperatur und Übersäuerung als Lebensraum für viele Tiere und Pflanzen ausfallen“, es werde in vielen Gegenden der Erde „ganz einfach nicht mehr möglich sein zu leben“. Unter allen möglichen Zukunftsszenarien habe „auch das günstigste Szenario extreme Konsequenzen für das Leben auf unserem Planeten“, wie der gerade veröffentlichte IPCC-Klimabericht der Vereinten Nationen verdeutliche (S. 6).

Xavier Bettel fasste seine politische Absicht in dem Widerspruch zusammen: „Wir haben die Grenze von dem, was erträglich wäre, längst überschritten. Aber es ist nicht zu spät“ (S. 7). Denn die Regierung will zugleich das Klima und das Wirtschaftsmodell retten. Was um so leichter erscheint, wenn die Ursache der Klimaveränderungen mit christlicher Schuldzuweisung auf die Sündhaftigkeit des Einzelnen als völlernden Verbraucher zurückgeführt wird, der mit einem ­Valorlux-Sack Buße tun soll. Sie ist sich sicher, auch dem Wunsch einer Mehrheit von Unternehmern und Beschäftigten zu entsprechen, sogar der CSV, die ihren Malthusianismus wohlweißlich auf Wahlkampfveranstaltungen beschränkt.

Denn am Erfolg dieses mit dem Anzapfen fremder Steuerbemessungsgrundlagen sogar einen beachtlichen Sozialstaat erlaubenden Wirtschaftsmodells hegte der Regierungschef keinen Zweifel. „Unter den wenigen Ländern mit einem Triple A bei den drei größten Ratingagenturen sind wir damit das Land mit der niedrigsten Staatsverschuldung“ (S. 20), freute er sich. „Die Bevölkerung ist in einem Zeitraum von zehn Jahren um über 20 Prozent gestiegen. Gleichzeitig nahm die Zahl der Leute, die täglich über die Grenze zu uns arbeiten kommen, um ein Drittel zu.“

Bloß weil dem „in der Vergangenheit“, ergo im CSV-Staat, „nicht genug Rechnung getragen wurde“, gebe es heute „Staus auf den Straßen, Personalmangel in allen möglichen Branchen, Wartezeiten in den Notaufnahmen“ (S. 19). Die Regierung will deshalb nicht weniger Wirtschaftswachstum, wie es Naturschützer und Fremdenfeinde fordern, sondern mehr Geld in den Ausbau von Infrastrukturen investieren, bis „im Jahr 2023 das Investitionsniveau zum ersten Mal auf mehr als drei Milliarden Euro steigt“ (S. 20).

Deshalb verspricht die Regierung „eine gesamtpolitische Herangehensweise, die den Krite­rien der Nachhaltigkeit gerecht wird“. Das habe „natürlich auch Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes. Eine positive Wirtschaftsentwicklung steht aber nicht im Widerspruch zu ehrgeizigen Klimazielen. Im Gegenteil. Die Geschichte lehrt uns, dass Verbesserungen immer auch durch Innovation, durch Weiterentwicklung, durch Technologie und auch durch eine industrielle Entwicklung kommen“ (S. 11).

Zudem sei die Regierung keinesfalls untätig gewesen: „Luxemburg erlebt im Augenblick schon eine Energietransition“ (S. 8) dank staatlich bezuschusster Wind- und Sonnenenergie und der „Förderung der Elektromobilität und damit auch des Ausbaus des Netzes von Ladesäulen“ (S. 10). Wenn Elektroautos nicht das Klima, sondern die Automobilindustrie retten sollen, dann auch deren Zulieferindustrie, „wo Luxemburg ein wichtiger Standort ist und auch bleiben will“ (S. 12).

Mit „einer gewissen Frustration“ musste der Premier allerdings feststellen, dass „die Zukunft nicht allein von uns abhängt“, denn so vorbildlich die Luxemburger Regierung auch sein mag, trotz der Verdopplung ihres Beitrags zum internationalen Klimafonds könne das Klima nicht ohne China, die USA und Indien gerettet werden. Offenbar war seine Frustration so groß, dass er keine Worte zum Milliardengeschäft mit dem Tanktourismus fand.

Stolz verkündete der Premier die mutigen Ziele seiner Regierung: „Der Anteil der erneuerbaren Energien soll in den nächsten zehn Jahren auf 23 bis 25 Prozent steigen.“ „Die Senkung der Treibhausgase um minus 50 bis 55 Prozent bis 2030 im Vergleich zu den Ausscheidungen von 2005 ist unser festes Ziel.“ Die Regierung will „bis 2050 das Niveau von ‚netto null‘ erreichen, dass also nicht mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre ausgestoßen wird, als gleichzeitig absorbiert werden kann“ (S. 7).

Xavier Bettel nannte zwar keine weiteren Mittel, um diese dringlichen Ziele zu erreichen. Aber die Wählerschaft und die besorgten Schüler können dennoch beruhigt schlafen. Denn die Mittel zur Rettung des Klimas werden einmal alle in einem „lückenlosen Klimaschutzgesetz“ stehen, das „in die Tiefe gehen“ wird mit einem „Fahrplan, der über die direkten und offensichtlichen Branchen hinausgehen“ soll (S. 14).

Die Klimakrise ist aber nicht die einzige unverschuldete oder hausgemachte Krise, mit der sich DP, LSAP und Grüne heute herumschlagen müssen. Der Herzinfarkt und das Ausscheiden des grünen Justizministers Felix Braz bedeuten den Verzicht auf „eine Stütze und einen wichtigen Teil jenes Fundaments, das den Erfolg dieser Koali­tion und den Erfolg Luxemburgs mitermöglichte“ (S. 2).

Nachdem er sich während der Koalitionsverhandlungen bereits an einem Posten in der Europäischen Kommission interessiert gezeigt hatte, bestätigte der einstige Motor der Koalition, Etienne Schneider (LSAP), vorige Woche dem Lëtzebuerger Land, dass er vor dem Ende der Legislaturperiode die Regierung verlassen wolle. Doch auch wenn er bald der Letzte der drei stürmischen jungen Männer von 2013 sein wird, bekannte sich der Premier, gegen alle Spaltungsversuche der CSV, zum Bund der liberalen Macher: „Diese Koalition ist nicht angetreten, um weiterzumachen, sondern um weiter zu machen“ (S. 4)

Manche Krisen sind solche der hehren moralischen und liberalen Prinzipien von DP, LSAP und Grünen. Es gelang den Polizei- und Justizministern bisher nicht, überzeugend zu erklären, wie die staatlichen Vollzugsorgane die Bevölkerung überwachen können, ohne gegen den Datenschutz zu verstoßen. Deshalb beschäftigte sich der Premier ausführlich mit dem Datenschutz. „Die Regeln, die sich für den Bereich der Sicherheits- und Justizautoritäten anwenden, unterscheiden sich von den allgemeinen in ganz logischen Punkten“, doch „die Interpretation davon hat uns im Sommer beschäftigt und die zuständigen Ministerien haben vollumfängliche Erklärungen geliefert. Es wurde unterstrichen, dass man Vorwürfe ernst nimmt und mögliche Schwachstellen beheben will“. Doch Abhilfe naht: „Bis zu den Weihnachtferien sollen die großen Linien der Reform feststehen“ (S. 24).

Die politische Krise um den Datenschutz war noch nicht zu Ende, da kam schon die nächste: Die Kapriolen ihres ehemaligen Differdinger Bürgermeisters und das Lavieren ihrer Umweltministerin stehen für das Ende der Grünen als SaubermännerInnenpartei. Der Premierminister zog es vor, sich weiter vornehm herauszuhalten und verlor kein Wort darüber.

Der möglicherweise ungeordnete EU-Austritt Großbritanniens ist mit eher diskret erwähnten Chancen und wiederholt aufgezählten Risiken verbunden, auch für die ohnehin sich verlangsamende Wirtschaftskonjunktur. Die Regierung lege deshalb, so der Premier, den „Hauptakzent in den nächsten Tagen und Wochen darauf, dass unser Land und seine Wirtschaft bestmöglich auf einen Brexit ohne Abkommen vorbereitet sind. Wir brauchen Stabilität, Stabilität in der Europäischen Union und auch in Luxemburg. Sie ist der Garant einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung, und insbesondere im Bereich der Finanzdienstleistungen ist dies ein zentraler Faktor“ (S. 18).

Die LSAP hatte im Wahlkampf versprochen, dass nach den Sparmaßnahmen der vorigen Legislaturperiode nun die Zeit für sozialpolitische Umverteilungsmaßnahmen gekommen sei, um die Einkommensschere wieder ein wenig zu schließen. Doch mit der Mindestlohnerhöhung und zwei zusätzlichen Urlaubstagen scheint dieses Kapitel abgehakt, schließlich gehört die LSAP zu den Wahlverlierern. Nachdem die Unternehmerverbände unmittelbar vor seiner Erklärung wieder einmal geräuschvoll die Sozialpartnerschaft aufzukündigen drohten, ging der Premier nicht weiter auf soziale Fragen ein. Er hoffte bloß, dass man „miteinander und nicht nur übereinander redet“ (S. 33).

Seine Beschreibung der angekündigten Steuerreform stellte der Premier unter die Losung: „Eine Individualisierung bei den Steuern ist dafür ein zentrales Element einer Gesellschaftspolitik, die darauf aus ist, Ungerechtigkeiten und Verletzbarkeiten abzuschaffen“. So dass sie eher auf eine Umverteilung zwischen Ehepartnern als zwischen Reich und Arm hinauslaufen dürfte. Wobei die Individualbesteuerung bis zu den Wahlen 2023 sicherheitshalber nur „progressiv“ und „über einen möglichst langen Zeitraum eingeführt“ werden soll (S. 31).

Zu den politischen Krisen trägt bei, dass die CSV nach sechs Jahren erwacht ist und in Opposition tritt. Sie versucht, die Schwächen der Koalition auszunutzen und will beim Datenschutz oder den Baulichkeiten des ehemaligen Differdinger Bürgermeisters nicht mehr lockerlassen. Ein unterschiedliches politisches Programm will sie nicht durchsetzen, sondern bloß wieder in die Regierung kommen.

Als die stürmischen jungen Männer von DP, LSAP und Grünen 2013 gerade den christlich-sozialen Drachen erlegt hatten, wollten sie mit dem Mittel der Haushaltsdisziplin eine neoliberale Umverteilung durchsetzen und nebenbei die gesellschaftlichen Umgangsformen vom klerikalen Mief befreien. Damit kamen sie rund zur Hälfte durch, wie das Ergebnis der Europawahlen 2014, die regelmäßigen Meinungsumfragen und das Desaster des Referendums 2015 zeigten. Ein skrupelloser Kurswechsel und die Ratlosigkeit der CSV erlaubten ihnen 2018 ganz unerwartet, ihre Koalition fortzusetzen. Obwohl Xavier Bettel in seiner Erklärung zur Lage der Nation sechs Monate vor den Wahlen schon nichts mehr aufgeführt hatte, was es seiner Meinung nach wert gewesen wäre, die Koalition ohne CSV fortführen zu wollen.

Zum Leidwesen der Konservativen ist die liberale Koalition kein Exotikum mehr, sondern eine ganz normale Regierung geworden. Der ungestüme Reformeifer jener, die einst die Zukunft pachten wollten, hat sich beruhigt. Und „Krisenmanagement“ war am Ende der ganze Stolz des historischen Vorbilds, der DP/LSAP-Koalition von 1974 bis 1979. Auch wenn der Premier noch kein Wort über die bevorstehende Rezession verlor.

Romain Hilgert
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