Binge watching

Eiszeit

d'Lëtzebuerger Land vom 17.07.2020

Braucht es eine Serie, die auf einem äußerst mutigen Science-Fiction-Film basiert? Die auf Netflix verfügbare Serie Snowpiercer bejaht diese Frage – eine zweiten Staffel ist bereits in Produktion. Dem Film des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-Ho von 2013 nachempfunden, der seinerseits auf der Graphic Novel Transperceneige (1982) von Jacques Lob und Jean-Marc Rochette basiert, ist Snowpiercer augenscheinlich eine Kritik am modernen Kapitalismus. Dies dürfte vor Bongs biographischem Hintergrund auch kaum überraschen: 1988 schrieb er sich an der Yonsei-Universität mit dem Schwerpunkt Soziologie ein, ein Hochschulgelände das damals ein fruchtbarer Boden für die südkoreanische Demokratiebewegung war; Bong nahm aktiv an Studentendemonstrationen teil und machte mehrmals Bekanntschaft mit Tränengas. Seine sozialistische Haltung bestimmt Bongs Werk maßgeblich, man denke da nur an den gepriesenen Parasite aus vergangenem Jahr. Auch das Setting in Snowpiercer ist unmissverständlich eine Metapher für das Ungleichgewicht der sozialen Verhältnisse und freilich kann man hinter der Erzählung noch die Ausführungen von Karl Marx und Friedrich Engels erkennen, die im kommunistischen Manifest dargelegt werden: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ In einer dystopischen Zukunft nämlich hat die Gesellschaft aufgrund der globalen Erwärmung eine chemische Substanz in die Atmosphäre freigesetzt, um sie abzukühlen. Die Folgen dieser Chemikalie wurden indes unterschätzt: Erde kühlt ab, es folgt eine neue Eiszeit. Als letztes Refugium der Menschheit wurden Plätze gegen Bezahlung im Zug von Wilford angeboten, der in rigide Klassenschichten eingeteilt ist. Doch die bestehenden Verhältnisse verleiten die Unterprivilegierten dazu, eine Revolution anzuzetteln. André Layton (Daveed Diggs) ist in alledem ein Mordermittler, dessen Suche nach dem Mörder auch die Suche nach Wahrheiten in diesem System der Klassen ist. Das Ganze steuert so offensichtlich auf einen plot-twist zu, dass weder die Vorhersehbarkeit der Handlung noch die flachen Charaktere irgendwie zur Identifikation oder Reflexion einladen.

Bongs Film war noch ein nachgerade mustergültiges Beispiel für gelungene Science-Fiction, das gekonnt darlegte, dass das Genre besonders auf die Präsentation ausgelegt ist, weniger auf Kriterien der Plausibilität. Die Stringenz der Handlung, die Begrenzung auf die reinsten Formen des Innenraums, die Ausdrucksstärke des Dekors, der Requisiten und der Maske, all dies setzte Bong in seinem Film noch immersionsgerichtet ein, so dass der Zuschauer sich der Sogkraft der diegetischen Welt nicht mehr entziehen konnte. Die Serie Snowpiercer dagegen muss diese Handlung aufbrechen und mit allerlei Momenten des Stillstands, der Ruhe und ja, der Geschwätzigkeit füllen und vernachlässigt dabei die Konzentration auf das Wesentliche. Nicht nur ist Daveed Diggs Figur neben einer Reihe Nebenfiguren äußerst reißbrettartig gezeichnet, er hat natürlich auch seine backstory-wound, und die muss im Gegensatz zu so vielen Filmen hier nun äußerst ausführlich darlegt werden. Aufgrund der längeren Laufzeit schieben sich nun Fragen der Plausibilität umso mehr in den Vordergrund und weisen auf die nahezu blödsinnigen Prämissen der Erzählung hin: Wieso muss dieser Zug ständig in Bewegung sein? Kann er seinen Zweck nicht ebenso gut im Stillstand erfüllen? Je mehr man sich auf die Handlung fokussiert, desto mehr wird Snowpiercer ad absurdum geführt, denn schließlich war die Konzentration und die Reduktion auf das Eigentliche, sowie die Parallelisierung der Bewegung des Zuges mit der Action-basierten Bewegung der Handlung, unabdingbar für den Film. Man kann nur hoffen, dass die angekündigte zweite Staffel der Serie hingegen schnellstens auf Eis gelegt wird. Oder anders formuliert: Braucht es letztlich diese Seriendramaturgie neben dem herausragenden Film? Die Antwort kann nur lauten: Nein.

Marc Trappendreher
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