Sollte der öffentlicher Transport gratis sein?

Freifahrt für alle

d'Lëtzebuerger Land du 11.10.2000

Die Gemeindeverantwortlichen von Hasselt sind stolz: 120 Besuche zählten sie seit dem Sommer 1997 - von ausländischen Medien, Parteienvertretern und Verkehrsfachleuten. Auch die anfangs Skeptischen seien schließlich beeindruckt gewesen von jenem Projekt, das in der Hauptstadt der belgischen Provinz Limburg im Juli 1997 gestartet worden war: öffentlicher Transport zum Nulltarif.

Die Idee ist an sich nicht neu. Schon vor mehr als 30 Jahren wurde sie international diskutiert, und zwar zum Teil erbittert. Ihre Befürworter rechneten damit, dass der Nulltarif ein unübersehbares Signal an die Autofahrer sein würde; Schätzungen prognostizierten einen Umstiegseffekt hin zu Bussen und Bahnen von bis zu 40 Prozent. Da sich gleichzeitig die Kosten für Verkehrswege und Abstellplätze der Autos reduzieren würden, sei langfristig mit Ausgabenersparnissen für die Kommunen zu rechnen. Außerdem kämen derartige Maßnahmen in erster Linie finanziell schlechter Gestellten zugute, ein über Steuern finanzierter Nulltarif wirke im Sinne einer stärkeren Umverteilung.

Für seine Gegner war der Nulltarif systemfeindlich: der Staat dürfe nicht über immer mehr Einkommensanteile der Bürger verfügen. Der Nulltarif lade ein zur Vergeudung volkswirtschaftlichen Vermögens, wo sparsamer Umgang damit angebracht sei. Die von den Befürwortern prognostizierten Umstiegseffekte bezeichnete die Gegenseite als viel zu hoch gegriffen und präsentierte ihrerseits entsprechende Gutachten. Demnach sei der Fahrpreis kein erstrangiges Kriterium bei der Wahl des Fortbewegungsmittels, der Nulltarif also ein öffentlich finanzierter Angriff auf die Wahlfreiheit.

Einige Städte starteten in den frühen 70-er Jahren praktische Experimente. Die Verkehrsbetriebe Roms führten Ende Dezember 1971 für sieben Tage den Nulltarif ein, was zwar zu einer 50-prozentigen Fahrgastzunahme in den Bussen und Bahnen führte, der Rückgang des Individualverkehrs blieb mit minus zwei Prozent dagegen gering. Zwei Jahre dauerte ein Projekt in Bologna. Ab April 1973 fuhren während des Berufsverkehrs dort alle Busse kostenlos; für ältere Bürger galt ab 1974 der Nulltarif generell. Zählungen wiesen nach, dass der Autoverkehr im Stadtzentrum Bolognas zwischen 1972 und 1974 um 20 Prozent sank, die Zahl der Busbenutzer wuchs um 50 Prozent. Auch in den USA gab es Tarifexperimente: In Atlanta/Georgia wurden Anfang der 70-er die Fahrpreise um 63 Prozent gesenkt, die Sitzplatzkapazität um 30 Prozent erhöht. Nach zwei Jahren war die Busnutzung um 19 Prozent gestiegen.

Diese Resultate gaben Befürwortern wie Kritikern der Gratisangebote Recht: Offenbar ließ sich damit die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel steigern, das Kfz-Aufkommen jedoch sank nicht in derart stark, wie von den Optimisten vorhergesagt. Die Diskussion ebbte daraufhin ab, dennoch bestehen in manchen Städten Gratisangebote zum Teil seit den 70-er Jahren weiter. Sei es auf einzelnen Innenstadtlinien, wie in New Jersey, Denver oder Rom, oder als Zielgruppenangebote, wie für die Inhaber einer Gästekarte in Konstanz am Bodensee oder in Form des Luxemburger City-Shopping-Busses. Auch in europäischen Skigebieten chauffieren mancherorts Gratisbusse die Touristen vom Hotel an den Hang.

Der Vorteil solcher Lösungen: die gratis bedienten Linien sind nicht zahlreich, das Passagieraufkommen kalkulierbar, der Einsatz der Busse hält sich in Grenzen und die Kosten für Wartung und Austausch ebenfalls. Da sich zielgruppenbezogene Gratisangebote günstig in Stadtmarketingkonzepte einbinden lassen und das Image eines Erholungsortes oder einer Einkaufsstadt kommunizieren helfen, werden Busunternehmen und Gemeinden schnell handelseinig über eine Kostenaufteilung. 

Denn der politische Wille, langfristig den Bestand eines Nulltarif-Angebotes abzusichern, ist das entscheidende Kriterium. Geht der Nulltarif außerdem nicht einher mit einer substanziellen Qualitätsverbesserung im Angebot, bringt er nicht viel, weiß Willy Hüsler, Verkehrsplaner aus Zürich und europaweit einer der gefragtesten Sachverständigen für Gratis-Projekte.

Zumal dann, wenn die Gratisbenutzung so großflächig gilt wie in Hasselt mit seinen mehr als  68 000 Einwohnern. Seit dem 1. Juli 1997 und noch bis zum Ende dieses Jahres sind dort alle Busse innerhalb der Stadtgrenzen für jedermann gratis. Überregionalbusse sind es nur auf innerstädtischen Streckenabschnitten und nur für die Hasselter Bürger. Allerdings hat nach Auskunft der Gemeinde der Nulltarif von Anfang an nicht im Vordergrund der Überlegungen gestanden, sondern eine ruhigere Stadt. Dafür wurde ab 1997 die drei Kilometer lange Ringstraße um die Hasselter City von früher vier auf heute zwei Fahrspuren zurück gebaut, Fußwege wurden verbreitert und Radwege angelegt, Bewohner der Stadt können ihre Autos in Parkhäusern im Stadtzentrum zu Preisen abstellen, die dank kommunaler Bezuschussung niedriger sind als die für Auswärtige; die wiederum sollen durch erweiterte Gratis-P+R-Parkplätze bereits am Stadtrand abgefangen werden. 

Gesicherte Zahlen über einen Rückgang des Autoverkehrs in Hasselt liegen noch nicht vor. Die Busbenutzung aber wuchs, Zählungen zu Folge, nach Einführung des Nulltarifs schlagartig: von 340 000 im Jahre 1996 auf 2,7 Millionen nach den ersten zwölf Monaten mit dem neuen System, heute beträgt sie mehr als drei Millionen. Eine Ende 1997 vom flämischen Verkehrsministerium in Auftrag gegebene Studie ergab, dass 16 Prozent der Busbenutzer diese Fahrten früher mit dem Auto zurück gelegt hätten. Zugleich aber wuchs die Zahl der Besucher von auswärts um 30 Prozent: "Mit Sicherheit", sagt Marc Verachteren, der Verantwortliche der Gemeinde für das Verkehrskonzept, "kommen viele per Auto und lassen ihren Wagen nicht auf den P+R-Plätzen." Gesperrt für den Individualverkehr ist Hasselts City nicht, was die ortsansässige Geschäftswelt positiv zur Kenntnis genommen hat. Sie ist hoch erfreut über das Besucherwachstum, "und selbst wenn", meint Marc Verachteren, "wir inklusive der Besucher am Ende nicht viel weniger Autos im Stadtzentrum haben sollten, ist das doch gut für den Handel und die Gastronomie."

Ungebrochene Akzeptanz hat das Hasselter Modell nötig, soll es über die am Jahresende auslaufende Pilotphase hinaus verlängert werden. Keine Probleme damit hätte der zuständige Busbetrieb De Lijn Regio Limburg, teilt dessen Direktion mit. De Lijn hätte ohnehin vorgehabt, ihr Busangebot in Hasselt auszubauen, als sie die Zahl der Busse von acht auf 27, die der Linien von vier auf neun erhöhte und statt 84 täglicher Fahrten 480 anbot. Angepeilt war damals nur ein Fahrgastzuwachs von 340 000 auf 1,3 Millionen; dass die Nutzung sich fast verzehnfachte, habe alle Beteiligten überrascht. Mit 32 Millionen Franken jährlich bezahlt die Gemeinde Hasselt an De Lijn den Einnahmeausfall aus nicht verkauften Tickets und Abonnements und deckt damit 25 Prozent der Kosten. Für De Lijn selbst hat das erweiterte Angebot die Kosten von früher 50 auf derzeit 130 Millionen Franken pro Jahr erhöht, doch dafür kommt die flämische Regierung im Rahmen eines Abkommens auf.

Politisch potenziell angreifbar aber ist selbst ein offenbar so erfolgreiches Projekt wie das in Hasselt. Und zwar mit den alten Argumenten aus der Nulltarif-Debatte der 60-er und 70-er Jahre. In anderen, kleineren Städten ist das ebenso: Etwa im ostdeutschen Templin, (14 000 Einwohner), wo der Gemeinderat nach einer Pilotphase von 1997 bis 1999 entschieden hatte, die vier Gratisbusse auch weiterhin mit umgerechnet drei Millionen Franken jährlich zu bezuschussen, weitere 13 Millionen teilen sich der Landkreis, das Land Brandenburg und der zuständige Verkehrsbetrieb. Auch in Templin war die Busnutzung drastisch gestiegen: von 3 840 Fahrgästen im Januar 1997 auf knapp 45 000 im Januar 2000. So etwas wie ein Zehnjahres-Programm aufzulegen, sieht die Gemeinde sich allerdings außerstande: "Da liegen zwei Wahlen dazwischen."

Das hat auch Verkehrsplaner Willy Hüsler zu spüren bekommen, der als Berater für das Gratis-City-Bus-Konzept im nordrhein-westfälischen Lemgo fungiert. Lanciert wurde es vor fünf Jahren, die Busbenutzung stieg von 40 000 auf über zwei Millionen. Doch nach den jüngsten Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen löste eine CDU-geführte Mehrheit die SPD ab. "Seitdem", sagt Hüsler, "hören wir ständig Sätze wie: Muss der 15-Minuten-Takt denn sein? Können wir nicht Busse einsparen? Können wir sie nicht mit großflächiger Werbung bekleben?"

Charmant, sagt der Verkehrsplaner, sei die Idee vom Nulltarif auf jeden Fall und volkswirtschaftlich womöglich sinnvoll. Viel wichtiger aber sei eine echte Kostentransparenz im Verkehr und der Abschluss der Diskussion, welche externen Kosten welcher Verkehrsträger verursacht und wie sie zu behandeln sind: Umweltverschmutzung, Streckenabnutzung, Unfallkosten. Vorher könne kein echter Wettbewerb im Personentransport entstehen.

Eigentlich ist auch dieses Argument alt: die Befürworter von Nulltariflösungen hatten damit seinerzeit ihre Konzepte gegen den Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung verteidigt:  der viel zu preiswerte Autoverkehr sei Wettbewerbsverzerrung schlechthin. Dass die Diskussion nun, 30 Jahre später, beendet werden könnte, ist noch nicht abzusehen: Zwar gibt es europäische Weiß- und Grünbücher zum Thema, viel schneller aber wurde innerhalb der EU ein Konsens über eine rasche Liberalisierung im Personenverkehr gefunden. 

Ein Entwurf für eine europäische Verordnung vom Juli dieses Jahres sieht vor, dass öffentliche Personentransportleistungen ausgeschrieben werden sollen. Von der Aufrechnung externer, bislang unberücksichtigter Kosten ist darin keine Rede - dafür um so mehr von der Forderung, möglichst Kostendeckung anzustreben. Dass für ambitionierte Nulltarif-Projekte gar kein Platz mehr bliebe, ist zwar nicht abzusehen; der politische Druck in Richtung einer rein buchhalterischen Betrachtungsweise des öffentlichen Personenverkehrs aber dürfte wachsen.

 

Peter Feist
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