Lebenslanges Lernen als Investition

Blick nach vorn

d'Lëtzebuerger Land du 11.10.2019

„Das war keine leichte Entscheidung“, sagt Stella Falkenberg. „Wir hätten uns auch ein Haus kaufen können. Und dann?“ Sie sitzt in ihrem Büro zuhause, unter der Dachkammer, holzgetäfelt im Stil der 1980-er. Ein paar Spielzeuge in der Ecke und ein bunter Flickenteppich sind die einzigen Überbleibsel, die davon zeugen, dass hier vor gut zwei Jahren noch Kinder spielten. Denn Falkenberg war eine von damals rund 850 Tagesmüttern in Luxemburg, die Tag für Tag neben den eigenen fremde Kinder betreuen. Damit andere Eltern zu Arbeit gehen können.

Seitdem die DP-LSAP-Grüne-Regierung die Gratisbetreuung eingeführt und sie auf die sprachliche Frühförderung ausgedehnt hat, die staatlich subventionierten Tagessätze für fremdbetreuende Eltern aber nicht im selben Maße angehoben hat wie bei den Maisons Relais „haben mein Mann und ich die Rechnung gemacht und es war klar: Es lohnt sich nicht mehr“. Weil sie als Selbständige galt und die Einnahmen nach zahlreichen Abmeldungen weiter sanken, habe sie die hohen Beiträge zur Sozialversicherung nicht mehr schultern können. „Am Ende haben wir draufbezahlt.“

Die Tagesmütter und -väter sind die Leidtragenden eines Trends, wonach immer mehr Eltern ihre Kinder eher in staatlich subventionierte Kinderbetreuungsstrukturen abgeben – aus finanziellen Gründen, weil es preiswerter für sie ist. „Aber nicht unbedingt, weil sie es wollen“, ist sich Falkenberg sicher. Rund 20 Prozent der Tageseltern haben in den vergangenen drei Jahren ihren Job aufgegeben, haben auf andere Tätigkeitsfelder wie Pflege- oder Bürokraft oder Kindergärtnerin umgeschult (beziehungsweise sind noch dabei).

Auch Stella Falkenberg hat sich neu orientiert, ist aber ihrer Leidenschaft treu geblieben. „Ich hatte immer schwierige Kinder, die keine Maison Relais wollte oder die in den großen Strukturen nicht gut zurechtkamen.“ Heute studiert die Mutter zweier Töchter Psychologie im Bachelor-Studiengang an der Universität Trier. „Ich hatte Glück, dass meine Oma gespart und mir Geld hinterlassen hat.“ Ohne die kleine Erbschaft und ohne den Rückhalt ihres Ehemannes, ein IT-Techniker, wäre das nicht möglich gewesen, betont Falkenberg.

Schwierige Entscheidung Nach langen Beratungen mit ihrem Mann fällt die Entscheidung dagegen, das Haus in Wasserbillig zu kaufen, in dem sie zur Miete wohnen. Lieber investiert sie in Falkenbergs neuen Lebensabschnitt. „Ich finanziere mein Studium hauptsächlich aus eigenen Ersparnissen.“ Das Informations- und Dokumentationszentrum für die Hochschulbildung Cedies schießt pro Semester 1 000 Euro Studienbeihilfe zu, vorausgesetzt, Falkenberg erfüllt die vorgegebenen Lernziele. Sechs Semester beträgt die Gesamtstudiendauer für das Psychologie-Grundstudium. „Ich werde vielleicht verlängern müssen, denn meine Töchter sind im Trotzalter und brauchen auch Zuwendung“, sagt Falkenberg.

Die 48-Jährige ist die älteste Studentin in ihrem Studiengang, sie ist auch die einzige, die bereits auf Berufs- und Studienerfahrung zurückblicken kann. Eigentlich ist die Ex-Tagesmutter so etwas wie das Aushängeschild für lebenslanges Lernen, wie es Arbeitgeber und Regierung so gerne propagieren: Ein Fachhochschulstudium der Technischen Physik führt sie nach der Diplomarbeit nicht weiter, sie arbeitet als Angestellte, wechselt dann ins Ausland und folgt einige Jahre später ihrem neuen Lebenspartner nach Luxemburg. Hier lässt sie sich zur Tagesmutter umschulen, auch um mehr Zeit mit ihren Kindern zuhause zu haben. Die gesetzlich vorgeschriebenen Weiterbildungen, die die Qualität der viele Jahre lang ungeregelten Tätigkeit der Tageseltern verbessern sollen, besucht sie gerne: „Ich habe dort eine Menge gelernt, besonders im Umgang mit Kindern mit Verhaltensschwierigkeiten.“

Echte Probleme, in der Uni Anschluss zu finden und bei den Vorlesungen mitzukommen, hat Falkenberg nicht. „Meine Erfahrungen als Mutter und Tagesmutter helfen mir, mich zu organisieren.“ Bei Hausarbeiten und Projektarbeiten glänzt sie. Nur bei den Klausuren hapere es manchmal. „Da geht es vor allem ums Auswendiglernen, und das liegt mir nicht“, räumt sie ein und bedauert die starke Verschulung des Fachs: „Es ist schade, dass einige Dozenten mehr Gewicht auf bloßes Wiedergeben legen statt auf kreatives Denken.“

Schon als Tagesmutter hat sie kein Blatt vorn Mund genommen, sie und ihr Mann hatten damals das Dageselteren Network ins Leben gerufen, um beim Bildungsministerium die Interessen der Tagesväter und -mütter zu vertreten. Doch trotz Petitionen, einiger Medienaufmerksamkeit (auch im Land), kam ihre Hauptbotschaft bei den Verantwortlichen nicht an, was sie bis heute bedauert: „Irgendwie scheint niemand zu verstehen, dass im aktuellen System der Gratisbetreuung den meisten durchschnittlich verdienenden berufstätigen Eltern gar nicht die Wahl bleibt, ihr Kind an Tageseltern abzugeben, wenn sie nicht draufzahlen wollen“, ärgert sie sich.

Wie viele andere Tagesmütter, die sich in der Facebook-Gruppe zu Wort melden, fühlte sie sich vom Staat im Regen stehen gelassen. Da helfe auch das staatlich angepriesene Konzept der Mini-Crèche nicht wirklich: „Um so eine Crèche aufmachen und rentabel halten zu können, muss eine Tagesmutter das nötige Geld investieren können“, ist sie überzeugt. Auch, dass der finanzielle Druck dazu führe, dass wieder mehr illegal betreut werde, weil Mütter, um über die Runden zu kommen, Kinder aufnehmen, ohne diese korrekt anzumelden. Dabei war die ursprüngliche Idee des Gesetzgebers gewesen, mit der Regulierung der Tageseltern insbesondere gering qualifizierte Frauen aus der Schwarzarbeit zu holen.

Mit einem Psychologie-Bachelor in der Tasche hätte Falkenberg nach dem Studium die fachliche Ausbildung, selbst eine Maison relais leiten. „Ich glaube nicht, dass ich das will“, sagt sie und schüttelt energisch den Kopf. Als Tagesmutter haben ihr gerade die überschaubare Größe der Gruppen und der enge Kontakt zu den Kindern gefallen.

Definitiv entschieden, wie sie ihr Studium nutzen wird oder ob sie einen Master dranhängt, hat sie noch nicht. Wahrscheinlich wird sie weiter mit Kinder arbeiten. „In Luxemburg fehlen Kinderpsychologen, und ich kenne die Probleme in dem Bereich gut“, überlegt sie laut.

Eine für alle, alle für eine Dass sie und ihre Familie wegen ihrer Neuorientierung den Gürtel enger schnallen müssen und statt jedes Jahr nur noch alle zwei Jahre in den Urlaub fahren, ist für Falkenberg und ihre Familie ein Opfer, das sie eben bringen. „Ich bin ihnen sehr dankbar, dass das geht“, sagt sie froh. Die Mehrfachbelastung durch Studium und Familie bewältigt sie durch eine solidarische Organisation: „Ich habe das Glück, dass meine Töchter inzwischen so autonom sind, dass sie sich auch einmal selbst ums Essen kümmern können.“ Demnächst fährt sie zu einer Freundin in die Schweiz, um kurz vor Semesterbeginn noch einmal Kräfte zu sammeln. „Denn anstrengend ist so ein Studium schon“, sagt Falkenberg.

Ines Kurschat
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