Im Kopf nichts als Wurzeln

Abendland, umnachtet

d'Lëtzebuerger Land du 13.02.2015

Ein Wahnsinn das Ganze, soweit sind sich die meisten einig, und rühren stirnrunzelnd in ihrem Kaffee. Irgendetwas ist passiert, ziemlich viel, was eigentlich, reich mir bitte den Zucker.

War das nicht mal, da wird mir wohl keine widersprechen, eine Erdgegend hier, in der das Essen zwar nicht so scharf war wie in anderen Gegenden, die Menschen auch nicht, dafür aber fuhren Transportmittel zuverlässig, Kinder hungerten nicht, und es gab sogar Kunst. Jede Menge, nicht so schlecht, wenn der Himmel schon immer so grau über uns hing. Ein Großteil der Menschen konnte von der Arbeit, die sie verrichteten, sogar leben. Und es gab, kennen Sie das Wort noch?, es klingt etwas ausgestorben, Zukunft. Mit so was werden höchstens noch Kinder im Grammatikunterricht belästigt.

Die Menschen jammerten natürlich und beschwerten sich über alles Mögliche, aber wenn sie heute daran zurück denken, erscheint es ihnen wie ein Märchen, eines, in dem sie vor Langeweile schnurrten. Es gab alles, was man brauchte, außer vielleicht Parkplätze und offizielle Liebe für alle.

Und jetzt, auf einmal. Als habe sich die Hölle geöffnet und ihre Ausgeburten steigen aus Autos. Dinge passieren, von denen man dachte, sie gehörten woanders hin. Dorthin, wo sie hin gehören. In einer Stadt, in die wir fahren, um Kultur zu genießen oder einfach zu genießen. In dieser Stadt gibt es ja angeblich eine besondere Lebensart, eine ganze Kulturmaschinerie bedient sie, in wie vielen Filmen haben wir uns den weißen Himmel dieser Stadt angeschaut, ihre Dächer, uns das endlose Gequassel angehört, das als geistreich gilt.

Und dann vermasseln die einem alles, was kann man überhaupt noch machen, alles dreht sich um die, was glauben die eigentlich, wer sie sind? Überall sind sie, sogar wenn sie gar nicht da sind. Sie könnten ja da sein. Und alle könnten sie sein. Überall.

Warum bleibt der dunkelhäutige Typ im Flugzeug zum Beispiel so lange auf der Toilette? Fällt das denn niemandem auf, sieht das keiner? Warum behält er die Jacke an? Warum rutscht er auf seinem Sitz herum? Und warum lächelt er, ist das Tarnung? Und warum muss ich so was denken, ich würde auch lieber etwas anderes denken, Lyrik von Salonièren aus dem 19. Jahrhundert lesen. Oder mich mit einem Schamanen unterhalten.

Dann ziehen wieder welche mit allerhand Sprüchen und Flüchen durch das christliche Abendland, das sie gerade entdeckt haben. Diese Abendländlichen sind ein bisschen schwerfällig, es ist auch so mühsam mit all den Wurzeln. Sogar im Kopf nichts als Wurzeln.

Bitte Pause, Ruhe, könnt ihr jetzt aufhören, geht spielen, macht etwas Nettes, unternehmt was, muss ja nichts mit Bomben sein. Kaum hat man den Rücken gedreht, wegen den Bösen, wegen den Wurzeln, geht es da hinten wieder los, ich glaube im Osten. Wie heißt das da, Ukraine, gähn, ach ja, hatten wir doch schon, naja. Chronische Krankheit, russische. Plattenbauten, die zusammen krachen. Alte, schreiende Frauen, rauchende Ruinen, déjà vus, weiter schalten. Gerade hatte ich vergessen, dass es diese Ukraine gibt, und wo. Wozu eigentlich?

Wo wir ja Thailand und Südafrika haben, für den Hausgebrauch. Sri Lanka auch noch, Das sind Länder, in die man noch hin kann. Gehen, fliegen. Bald werden wir sagen, flüchten. Also die, die es können natürlich.

Wo wir bald nicht mal mehr Griechenland haben werden. Diese T-Rotzbuben, die sich für Rock Stars halten, legen sich gerade, was steht in der Apokalypse, guggel bitte mal den Nostradamus, mit den Märkten an.

Saat des Bösen, Wurzelgemüse, Amerikaner, Russen, die Coolen von der Schule, die Kohle wollen... what else? Mutti Merkel hat nie Zeit, vielleicht fällt dem Papst etwas ein. Etwas Schönes, das Mut macht und zum Träumen anregt, aber ohne dass sich die Märkte gleich so aufregen.

Aber leider ... wer wird den Menschenkinderlein im umnachteten Abendland Erhebendes, Erbauliches verkünden? Ihr Oberhirte sitzt derzeit in der Klapsmühle.

Michèle Thoma
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