Leitartikel

Ohne Experten

d'Lëtzebuerger Land vom 21.12.2018

Es ist die Zeit der Mindestlohnerhöhungen: In einem Anflug von Panik versprach der französische Präsident Emmanuel Macron den Gilets jaunes eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns um 100 Euro, am Mittwoch wurde der entsprechende Gesetzentwurf eingebracht. Die neue Regierung in Madrid kündigte für nächstes Jahr eine Erhöhung des im Vergleich zu den Durchschnittslöhnen sehr niedrigen spanischen Mindestlohns um 164 Euro monatlich an. Und als das hiesige Parlament am Dienstag die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns ab 1. Januar mit 60 von 60 Stimmen verabschiedete, bestätigte Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP), dass der Mindestlohn, wie von seiner Partei im Wahlkampf versprochen und nun im Koali­tionsabkommen abgemacht, nächstes Jahr um insgesamt 100 Euro erhöht werden soll. Dies kommt immerhin rund 60 000 Lohnabhängigen zugute.

Diese angekündigten Mindestlohnerhöhungen stellen eine politische Reaktion darauf dar, dass spätestens seit der Finanzkrise von 2008 vielerorts die Einkommensunterschiede größer geworden sind und die Nettolohnentwicklung stagnierte, so dass die Zahl der Menschen zunimmt, die nicht in Würde von ihrer Arbeit leben können. Weil es eine politische Reaktion ist, sollen die Mindestlöhne so erhöht werden, dass der Umfang der Erhöhung mit Zahlenzauber aufgebauscht wird und sie durch eine Netto- statt einer Bruttoerhöhung die Unternehmen, die die Löhne zahlen, möglichst wenig kostet.

In Frankreich zögerte die Regierung, ob sie die am 1. Oktober erfolgte Abschaffung von Sozialbeiträgen und die für den 1. Januar fällige gesetzliche Anpassung von den versprochenen 100 Euro abziehen kann. Hierzulande hatte die LSAP vor den Wahlen versprochen, dass die am 1. Januar beschlossene gesetzliche Anpassung an die allgemeine Lohnentwicklung der vergangenen zwei Jahre um 22,5 Euro nicht von den versprochenen 100 Euro abgezogen würde. Doch in den Koalitionsverhandlungen klang das anders und am Dienstag bestätigte der Arbeitsminister, dass nach der Anpassung in 14 Tagen nur noch 77,5 Euro ausstehen. Dafür sieht das Koalitionsabkommen, ohne dass viel Aufhebens darum gemacht worden wäre, eine weitere Erhöhung um 0,9 Prozent oder 18,6 Euro zu Lasten der Unternehmen vor.

Auf diese Weise würden die Betriebe laut Arbeitsminister ein Drittel zur Mindestlohnerhöhung betragen. Zwei Drittel trage die Staatskasse über eine mit dem Haushaltsgesetz im Frühjahr beschlossene Steuersenkung beziehungsweise eine Steuergutschrift, so dass nach Meinung des Ministers die Mindestlohnerhöhung „115, 116, 117 Euro“ brutto ausmachen werde, „um auf die 100 Euro netto zu kommen“.

Sicher darf man über die nun beschlossene und die weiteren Mindestlohnerhöhungen geteilter Meinung sein. Während die Salariatskammer vorrechnet, dass die am 1. Januar fällige Anpassung ungenügend sei, um die Bezieher vor dem Armutsrisiko zu schützen, lehnt die Handwerkskammer die Anpassung ab, weil das Mindestlohnniveau so hoch sei, dass es die Schaffung von Arbeitsplätzen beeinträchtige. Die CSV, die im Wahlkampf eine über die gesetzliche Anpassung hinausgehende Mindestlohnerhöhung für bedenklich hielt, warf am Dienstag der Regierung plötzlich vor, die für den 1. Januar versprochene Erhöhung nicht schnell genug vornehmen zu wollen. Die DP hatte in ihrem Wahlprogramm von 2013 sogar Mindestlohnkürzungen vorgeschlagen. Pech bloß, dass diese Diskussion stets von Laien, wie Politikern, Lobbyisten und Statistikern, geführt wird unter Ausschluss der Experten, von Arbeitern und Angestellten, die nunmehr 2 071,10 Euro im Monat verdienen und wissen, was es heißt, in der Praxis damit auskommen müssen.

Romain Hilgert
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