Die Langzeitkranken und die Forensik bleiben die Sorgenkinder der Ettelbrücker Psychiatrie. Der neue Strategieplan nennt Lösungen, entscheiden aber wird die Politik

Stockender Prozess

d'Lëtzebuerger Land du 18.01.2013

Massiv streckt sich das Hochhaus in die Höhe. Im winterlichen Grau sieht es besonders trist aus. So, als wäre in dem Gebäude alles so wie früher, als hätte sich nichts geändert. Das Building war viele Jahre Symbol für eine Psychiatrie, die Menschen mit mentalen Problemen eher wegsperrte, als sie zu behandeln, sie bevormundete, statt ihnen Perspektiven für ein Leben mit der Krise oder Krankheit zu geben.
Das Building muss weg, das hat Psychiater Marc Graas schon vorher sechs Jahren gesagt und dazu steht er heute als Generaldirektor des CHNP aweiterhin. Denn obwohl sich in den sieben Jahren seit dem ersten Psychiatriebericht des Schweizer Experten Wulf Rössler einiges getan hat: Das kantige Ungetüm symbolisiert wie kein anderes die Vergangenheit, mit der man endlich abschließen will.
Aber ist sie auch vergangen? Das Landespsychiatriekrankenhaus „ist in der institutionellen Planung steckengeblieben“, schreiben die Schweizer Experten von Lenz Beratungen & Dienstleistungen AG in ihrem kürzlich veröffentlichten Bericht zum Plan hospitalier 2013. Und wenn man die Daten und die Schlussfolgerungen der Autoren liest, deutet einiges darauf hin, dass die Psychiatriereform nicht mehr so zügig voran geht wie zu Beginn.
Gemäß dem aktuellen Plan hospitalier soll das CHNP in Ettelbrück, einstiges Monopol bei der psychiatrischen Versorgung, mit seinen 237 Betten nur noch rehabilitative Aufgaben übernehmen, das heißt, Patienten mit psychiatrischen Problemen, denen in den vier Akutkrankenhäusern aufgrund der Schwere oder Dauer ihrer Krankheit nicht geholfen werden konnte.
Inzwischen ist die psychiatrische Akutbehandlung den allgemeinen Krankenhäuser überlassen, die mit ihren psychiatrischen Fachabteilungen die Erstaufnahme dezentral organisieren. Nur bei Jugendlichen und bei alten Personen, die aus den Alters- oder Behindertenheimen kommen, erfolgt teils noch eine Erstversorgung im CHNP. „Aber das sind Einzelfälle“, betont Generaldirektor Marc Graas im Gespräch mit dem Land. Die Dezentralisierung ist erfolgt – und das ist ein Erfolg von LSAP-Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeos Psychiatriereform. Und dennoch scheint der Aufbruch im vergangenen Jahr an Elan verloren zu haben. Sicher, die Jugendpsychiatrie, im Jahresbericht des Ombudskomitees als „extrem trauriger und raues Lebensumfeld“ der dort behandelten Jugendlichen gescholten, wurde generalüberholt und diesen Monat wiedereröffnet. Aber die Sorgenkinder der Ettelbrücker Psychiatrie sind dieselben geblieben – und das seit Jahren.
Das sind zum Beispiel die Langzeitpatienten. Die durchschnittliche Verweildauer der Patienten in der Rehabilitation des CHNP ist mit 96 Tagen überlang. Das aber hat nicht nur damit zu tun, dass rehabilitative Maßnahmen „grundsätzlich länger dauern“, wie Marc Graas sagt. Vielmehr leben im CHNP 70 bis 80 psychisch kranke Menschen, die schon so lange hospitalisiert sind, dass sie nach Einschätzung von Fachleuten nicht mehr  geheilt und nicht mehr ohne Hilfe leben können. Schon der erste Rössler-Bericht von 2005 hatte über diese chronisch Kranken festgestellt, dass sie eigentlich anderweitig untergebracht werden müssten. Fünf Jahre später sind die Bewohner noch immer im Rehabilitationsbereich untergebracht. „Wir würden sie gerne in einer anderen Struktur unterbringen, aber es gibt diese noch nicht“, betont Marc Graas. In einem neuen Strategiepapier, über das der Direktor mit den politischen Verantwortlichen und Partnern seit einigen Wochen berät, schlägt er vor, die Anzahl der Betten in der Reha-Abteilung von rund 180 (inklusive JSuchtstationen und Jugendpsychiatrie) auf 45 zu senken. Allerdings nicht um zu sparen: Das CHNP will die frei werdenden Ressourcen in eine neue Heimstruktur für rund 95 Langzeitpatienten investieren, die, anders als bislang, sich an ihrer unterbringung finanziell beteiligen sollen.
Eine ähnliche Idee hatte schon Graas’ Vorgänger Jo Joosten, war aber auf eine Vielzahl von Problemen gestoßen. Zum einen fehlte, das sagen Insider, dem aus Belgien kommenden Direktor die Erfahrung und Kontakte im eng vernetzten konsensorientierten Luxemburg. Im kleinen Luxemburg ist die Psychiatrie ein kontroverses Thema, das Verhältnis zwischen CHNP und außenstehenden Dienstleistern, wie die ambulatorischen Dienste, war viele Jahrzehnte äußerst angespannt. Der neue Direktor kennt die Sensibilitäten, hat er doch selbst als Psychiater die psychiatrische Abteilung auf Kirchberg aufgebaut und war zudem als Interim nach dem Tod von Direktor Jean-Marie Spautz im CHNP eingesprungen.
Doch ob sich bezüglich der Langzeitpatienten etwas tut, liegt nicht bei der CHNP-Direktion und dem neuen Konzept allein. Zunächst muss die Frage geklärt werden, wer für die Kosten aufkommt, was in Krisenzeiten erst recht nicht einfach ist. „Logisch wäre eine Finanzierung über die Pflegeversicherung, aber dafür muss das Gesetz geändert werden“, sagt Roger Consbrück, Berater aus dem Gesundheitsministerium. Weil auch die Ministerien nicht zahlen wollen, bleibt wohl, zumindest kurzfristig, die Krankenkasse, die bisher die Kosten trug. Der Preis ist mit geschätzten 400 Euro pro Bett pro Nacht aber kein Pappenstiel für die Beitragszahler. Derzeit verlaufen Verhandlungen zwischen CHNP-Direktion und Krankenkasse. Entscheidend wird aber auch sein, was der Gesundheitsminister im neuen Plan hospitalier zurückbehalten wird. Geht es nach dem CHNP soll der Aufbau eines Zentrums für Langzeitpatienten mit anhaltenden psychischen Problemen eine Säule im künftigen Angebot sein. „Wir werden auch in Zukunft Menschen haben, die nicht in anderen Strukturen unterkommen können, weil ihre Pflege zu aufwändig ist und psychiatrisches Fachwissen gefragt ist“, sagt Direktor Graas. Soziale Einrichtungen wie das Foyer Ulysse sehen sich einiger Zeit mit mehr älteren psychisch Kranken konfrontiert. Eine verbesserte Gesundheitsversorgung von Drogenabhängigen, etwa durch den Spritzraum Tox-In und durch Substitutionsprogramme, trägt dazu bei, dass sich die Lebenserwartung der Suchtkranken erhöht hat: Sie werden älter und sterben nicht mehr mit 30 oder 40 Jahren an einer Überdosis. Doch die meisten von ihnen bleiben schwer krank und können kein geregeltes Leben mehr führen. Die Behandlung von Suchtkranken ist eine weitere Kernaktivität des CHNP mit den beiden Therapiezentren für Alkoholkranke in Useldingen und für Drogenkranke in Manternach. Andere Klienten könnten aus der Forensik kommen. „Wir haben es hier oft mit Leuten zu tun, die früher schon in psychiatrischer Behandlung waren“, sagt Graas.
Die Forensik ist und bleibt das andere Sorgenkind des CHNP. Durch die Schließung zweier Abteilungen konnte die größte Platznot zwar entschärft und die Bettenzahl auf 20 erhöht werden, aber die Situation bleibt prekär. Die Sicherheitsbestimmungen sind nicht angemessen – und selbst wenn die schlimmsten Fälle nicht in Ettelbrück landen, fühlt sich der Klinikdirektor angesichts des Sicherheitsrisikos nicht gerade wohl: „Da muss etwas geschehen.“ Inzwischen hat sich die Regierung für eine Lösung ausgesprochen: Trotz Bedenken seitens der Menschenrechtskommission soll die Forensik auf dem Gelände der Schrassiger Haftanstalt gebaut werden, unter eigener Regie, nur die Sicherheit würde vom Gefängnispersonal gewährleistet. „Es ist eine pragmatische Lösung“, sagt Graas. Der Psychiater hatte den Standort früher selbst kritisiert. Doch mittlerweile ist der Druck auf die Ettelbrücker Forensik gestiegen, nicht zuletzt auch, weil die richterlichen Einweisungen steigen, und Graas ist Direktor des CHNP „und auch meinem Personal verpflichtet“.
Die Rehabilitation, die Langzeitkranken und die Forensik sind die offensichtlichen Baustellen des CHNP. Ebenso wichtig ist aber die Arbeit nach innen, um eine neue Mitarbeiterkultur zu etablieren. Schon unter Jo Joosten hat sich das CHNP bemüht, sich nach außen zu öffnen, in der 2006 eingerichteten Plattform Psychiatrie treffen sich ambulante Versorger und die Krankenhäuser. Einer internen Umfrage aus dem Jahr 2011 unter den externen Partner erzielte das CHNP jedoch bei der Kollaboration und bei der Annahme und pflegerischen Versorgung eher schlechtere Noten.
Marc Graas weist auf methodologische Schwächen der Befragung  hin, aber die Kritik nimmt er ernst. In den neun Arbeitsgruppen, die das CHNP zur Strategieentwicklung und Qualitätsverbesserung  eingesetzt hat, sind zwei der Aufnahme und der Entlassung gewidmet. „Wir wollen die Übergänge zwischen den Anbietern verbessern und eine Nachbetreuung organisieren“, sagt Graas. So soll künftig der Kontakt zu Patienten, die nach Ettelbrück überwiesen werden, geknüpft werden, ehe sie im CHNP ankommen. Klare Zuständigkeiten und Behandlungsabläufe sollen helfen, die Verweildauer auf drei bis sechs Monate maximal zu senken. Das CHNP folgt den Prinzipien der European Fondation for Quality Management. Ein neues Informatikprogramm hilft die Behandlung nach anerkannten Standards zu dokumentieren. Eine zentrale Rolle bei der Qualitätsentwicklung spielt die Mitarbeiterschulung, für das Jahr 2011 wurden rund 16 500 Weiterbildungsstunden absolviert, der Großteil im Bereich der Rehabilitation, der Jugendpsychiatrie und der Supervision. Ein weiterer Fokus soll auf der Zusammenarbeit mit den Patienten liegen. Die paternalistische Kultur im CHNP – aber nicht nur da – war in der Vergangenheit ebenfalls oft Stein des Anstoßes gewesen. René Pizzaferri von der Patientevertriedung beurteilt die bisherigen Bemühungen des CHNP positiv. „Wir sind mit den Verantwortlichen im Dialog“, sagte er dem Land. Bleibt zu hoffen, dass Ettelbrück seinen Ruf als Endstation für psychiatrische Problemfälle damit endgültig verliert – und dann auch das Building endlich abgerissen wird.

Ines Kurschat
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