Jean-Claude Juncker über das Land

"Die neutrale Anti-CSV-Wochenzeitung"

d'Lëtzebuerger Land du 07.01.2004

In der am 3. Dezember von der Nationalen Programmkommission veröffentlichten Studie über die Luxemburger Medien wird Premier Jean-Claude Juncker als einer der wichtigsten Medienkritiker hierzulande bezeichnet. Dies würde dem Regierungschef sicher zur Ehre und allen anderen zur Schande gereichen. Doch wenn ihm ein Hang zur „Presseschelte“ von „mimosenhaften Publizisten“ vorgeworfen wird, fühlt er sich trotzdem missverstanden.
Dass er sich beispielsweise freitags im Pressebriefing nach der Kabinettsitzung über einen Artikel oder eine Sendung aufregt, sei Ausdruck davon, dass er die Presse ernst nehme. Er plädiere schließlich für ein „erwachsenes Miteinander von Presse und Politik“. Und Journalist sei sein urnerfüllter Berufswunsch gewesen.
Wobei ihn die Themenauswahl am meisten zu ärgern scheint, „wenn ich sehe, womit die Presse sich befasst, und womit ich mich die ganze Woche beschäftigt habe“. Dass die Macht immer ihrer Abbildung voraus ist, er als Regierungschef einen Wissensvorsprung auf die Presse genieße, will er so nicht gelten lassen. Denn wenn es um politischen Klatsch und Ränkespiele gehe, verstehe die Presse schon, mit bewundernswertem Erfolg zu recherchieren, so dass sie dann sogar einen Wissensvorsprung auf ihn selbst habe.
Aber seinen Ärger über das Fernsehen will er nicht verstecken, wenn es „mehr Zeit für Herrn Dillenburgs Wandkalender einräumt als für den Stabilitätspakt“. Seine Vorliebe gibt eindeutig der geschriebenen Presse. Doch selbst bei der stört es ihn, wenn sie zunehmend Artikel publiziert, die sich „wie Fernsehbilder lesen sollen“, während das Fernsehen nie versuche, Sendungen nach dem Vorbild ausführlicher, analytischer Zeitungsartikel zu machen.
Während die gesamte Politprominenz Männchen macht, um von RTL ins abendliche „Topthema“ eingeladen zu werden, scheint Juncker es sich als einziger erlauben zu können, öffentlich seine Meinung über RTL zu sagen. Denn er und alle Medien wissen: Juncker sells.
Andererseits war das Luxemburger Wort zwar laut CSV-Statuten bis vor kurzem offizielle „presse amie“ der Partei, aber kein CSV-Staatsminister hatte es bisher so schwer wie Juncker, ein gutes Wort vom Wort zu bekommen. Er erklärt diese Distanz damit, dass er „kein typisches Produkt aus der normalen Brutstätte von CSV-Staatsministern“ sei. Er bekenne sich zu seiner „politischen Familie, hüte mich aber vor Lagerdenken“ und habe zudem „in jungen Jahren gelernt, dass ein Regierungschef im Dienst nicht einer politischen Partei, sondern des ganzen Landes“ stehe.
Was sich in den 20 Jahren, während denen er als Staatssekretär, Minister und Staatsminister der Regierung angehört, in der Luxemburger Presse geändert habe? „Alles!“ Anfang der Achtzigerjahre habe noch „eine relativ uniformisierte Meinungslandschaft“ bestanden. „Ein Zeitungsleser wusste, woran er war, noch ehe er sein Blatt aufgeschlagen hatte.“
Doch das Luxemburger Wort habe aufgehört, eine CSV-Zeitung zu sein, das Tageblatt sei auch kein Parteiblatt mehr, selbst wenn es noch immer den Standpunkt der freien Gewerkschaften ausdrücke. Parteizeitungen seien eigentlich noch das Lëtzebuerger Journal und die Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek. Die Liberalisierung habe die Radiolandschaft verändert, das tägliche Fernsehprogramm in luxemburgischer Sprache habe auch die geschriebene Presse beeinflusst.
Zu Beginn seiner politischen Laufbahn kannte Juncker auch noch „sämtliche Journalisten persönlich“. Seither habe sich ihre Zahl vervielfacht. Wenn er heute sein Pressebriefing nach der Kabinettsitzung gebe, sei es „wie eine Pressekonferenz in Brüssel: die Hälfte der Pressevertreter kenne ich nicht. Der einzige Unterschied ist, dass sich die Unbekannten in Brüssel vorstellen.“
Juncker weiß, dass selbst seine Koalitionspartner ihm vorwerfen, das Briefing zur Selbstdarstellung zu missbrauchen. Aber er bestreitet, dass sie jemals wünschten, das Briefing gemeinsam zu bestreiten. „Ich weiß außerdem nicht, ob es zweckdienlich oder für einen Koalitionspartner nützlich wäre, ganz gleich welcher Partei er angehört.“
Wer eine in La Voix du Luxembourg veröffentlichte Chronik seines Arbeitstags las, konnte den Eindruck gewinnen, dass Juncker mehr Zeit auf Interviews als aufs Regieren verwände. Denn er ist der erste Staatsminister, der systematisch die Kontakte mit der internationalen Presse als Mittel der Diplomatie einsetzt.
Der Premier, dessen Vorgänger Jacques Santer die ausländische Presse noch wie Bismarck als „Reptilien“ beschimpfte, meint, dass „die Präsenz in den internationalen Medien vital“ sei für ein Land, das nicht durch seine Größe zur Kenntnis genommen werde. Denn „wenn wir nicht in den Zeitungen und im Fernsehen der anderen Länder auftauchen, dann gibt es uns nicht. Auch die politischen Entscheidungsträger anderer Länder rechnen mit einem, wenn man in ihren Medien präsent ist.“ Juncker, der sich zu Weihnachten wieder sämtlichen Luxemburger Medien am Fließband als Interviewpartner zur Verfügung stellte, beteuert ziemlich überzeugend, dass das alles nicht nur reines Vergnügen sei. Was die ausländische Presse anbelangt, so würden „nur zwölf oder dreizehn Prozent der Interviewgesuche, die an den Service information et presse herangetragen werden, erfüllt“. Eine Kommunikationsstrategie habe er aber nicht. Bis heute lehne er auch alle Stichwortgeber und Redeschreiber ab und verlasse sich lieber auf sein Gefühl.
Beim Vergleich zwischen der nationalen und der ausländischen Presse will er „kein so schnelles Urteil über die Luxemburger Presse fällen wie diese über die Luxemburger Politiker“. Er sei sich der personellen und materiellen Schwierigkeiten bewusst, unter denen hierzulande Zeitungen und Rundfunk gemacht werden. Die Presse sei, wie die Politik, manchmal Ausdruck des „Luxemburger Genies“, trotz der unzureichenden Mittel mit Bindfaden und Kaugummi das Unmögliche doch noch einmal möglich zu machen.
„Luxemburger Journalisten müssen, wie Luxemburger Politiker, Generalisten sein“, meint der Mann, der auch schon einmal morgens von einem Radiosender angerufen wird, um auf leeren Magen eine Stellungnahme als Irak-Spezialist abzugeben. Deshalb störe es ihn auch, wenn die Presse „brutale Urteile über die Politik fällt, als ob sie auf einem Hochsitz stehe, wo sie sich doch, wie die Politik, eher durchs Dickicht kämpft“. Er will nicht alle Titel in einen Topf werfen, doch was ihn vor allem ärgert, ist ein zunehmender „Hang zur Skandalitis“.
Sorgen machen dem Kommunikationsminister Juncker die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen sich derzeit mehrere Verlag befinden. Denn die Erfahrung im Ausland zeige, wie rasch die Presse in solchen Fällen ökonomisch abhängig werden kann, etwa von ihren Inserenten. Hier sei es aber nicht am Staat, sondern an den Lesern, mit ihren Kaufentscheidungen die Qualitätspresse zu unterstützen und ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten.
Die „neutrale Anti-CSV-Wochenzeitung“ nennt Jean-Claude Juncker gerne das Lëtzebuerger Land – beide sind Jahrgang ‘54. Dass eine Zeitung kein Fanclub einer Regierungspartei ist, ist aber ein Vorwurf, mit dem das Land leben kann. Und ob andere Parteien wirklich besser im Land wegkommen als seine eigene, will Juncker nicht bewerten. Doch er hat noch eine andere Erklärung parat: Seine politische Sozialisierung sei in die Siebzigerjahre gefallen. Er habe das Land somit in der Zeit kennengelernt, als es eine Kampagne zugunsten der Mittelinkskoalition geführt habe, das heiße eben gegen die CSV. Die damaligen Kritiken an der CSV hätten sich nachträglich nicht alle als falsch erwiesen. Doch das Land habe sich damals schon von der Absicht seiner Gründerväter der Fünfzigerjahre entfernt gehabt, das Organ jener Leute zu sein, die keiner Partei angehörten. Und auch heute greife es Schwächen der CSV „besonders genüsslich“ auf.
Obwohl es schwerer geworden sei, das Land einer politischen Richtung zuzuordnen. Denn manchmal vertrete es innerhalb einer einzigen Ausgabe zwei gegensätzliche Standpunkte. Was immerhin eine kluge Art sei, den Lesern zu einer eigenen Meinung zu verhelfen. Mit Genuss lese er auch alte Land-Ausgaben aus den Achtzigerjahren, die „regelmäßig Fehldiagnosen über die Entwicklung der Staatsfinanzen enthalten haben“. Und wer will nicht schon vor der Geschichte Recht behalten haben? Dem Rilke-Verehrer, dem nicht zuletzt das gepflegte Deutsch im Land gefällt, freut sich jedenfalls freitags auf das Land als Wochenendlektüre. Das trifft sich gut. Denn entgegen eines weit verbreiteten Irrtums, soll eine politische Zeitung eigentlich nicht für Politiker, sondern für ihre Leser gemacht werden.

Romain Hilgert
© 2023 d’Lëtzebuerger Land