Die kleine Zeitzeugin

Alles verschiebt sich

d'Lëtzebuerger Land vom 24.02.2023

Die Erdplatten, die Machtblöcke, die Werte, die Gewissheiten. Zeitenwende, murmelt der deutsche Buddha sanft und schickt Leos an die Front. Jetzt geht es an die Front. Das hätte man vor zehn Jahren nicht gesagt, so ein vom Zahn der Zeit zernagtes Wort, diesen alten Wortknochen hätte man höchstens in der Wortschatztruhe gehabt, ganz unten, bei komischen Erbstücken, die man aus Pietät nicht entsorgt. Aus der Prähistorie noch. Als Großvater fachsimpelte. Aus Im Westen nichts Neues, das gerade die Filmpreise abräumt, als sehnten sich jetzt alle wieder nach schlammigdüsterer Schützengräbenromantik.

Es war einmal eine Mauer, die war aus Grabstein, einen Vorhang, der war aus Eisen, einen Rostblock. All das konnte man nicht überwinden. Daher war es stabil. Solide. Zumindest schien es so. Who’s who, das war ziemlich klar. Nichts änderte sich. Dann, das Ende der Geschichte wurde verkündet (wer brauchte sie schlussendlich noch?), ging es nur noch darum, liquid zu sein. Das Kapital wurde volatil, es war überall, wie eine Fata Morgana, man musste nur danach haschen, alles schien möglich. Schien. Schien. Vergessen der Atomsarkophag von Tschernobyl, das Menetekel von Aids, damals noch in Schreck erregenden Riesenlettern geschrieben. Ein endloses Happyend kündigte sich an, individuell ausbaubar zwar noch. Wer nicht happy war, war ein/e Loser/in. Nicht andersrum. Alles wurde spaßig, lustig, der Spaßterrorismus beherrschte die Szene, dann brachen die Twin Towers auseinander. Neue Zeiten brachen an, aus.

Verwerfung, dieses plötzlich dauergebrauchte Wort, bedeutet Sprung, Verschiebung, Störung, ist eine tektonische Zerreiß- oder Bruchstelle im Gestein, doziert Dr. Guggel. Überall werden jetzt solche Verwerfungen, solche Brüche und Umbrüche diagnostiziert, auf den Finanzmärkten, in der Gesellschaft, in den Gesellschaftsschichten, die es scheinbar gar nicht mehr gibt. Nicht mehr so. Nicht mehr eindeutig identifizierbar. Wo sind sie geblieben? Der Mittelverstand wird nur noch empört klagend erwähnt. Jetzt hätten die Zumutungen der Zeit sogar ihn erwischt! Nicht nur die mit dem Loser*innen-Abo. Loser, ein Wort, das man in Zeiten der fortgeschrittenen Wortkosmetik kaum noch verwendet, viel zu krass ehrlich drückt es die Verachtung der winner*innen oder der vermeintlichen winner*innen aus.

Auch die Gesellschaftsschichten sind mobil, wie wir alle, wie alles, wie der Boden unter den Füßen. Familienflüchtlinge, Jobnomadinnen, Transit-Personen, wir nisten in Milieus, in Blasen und Reservaten, in geliehenen Gebärmüttern, mit wechselnden Identitäten, Geschlechtern, in wechselnden Konstellationen.

Alles bewegt sich, nicht mehr heimlich. Unheimlich. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Erdplatten, die Machtblöcke, die Klimazonen, die Kriegsgebiete. Die Weltmächte die sich neu aufstellen, neu in Stellung gehen und aufeinander los. Statt aufeinander zu. Das war einmal. Das war einmal der Traum, schnell meißelte man ihn ein, in Charten, versuchte ihn festzuhalten für alle Zeiten. Die Lektion, dachte man, wäre gelernt. Eingebrannt für immer, in die DNA, das kollektive Gedächtnis. Jetzt wachsen Generationen heran, die den Holocaust für ein Gerücht halten oder für eine Wahnvorstellung.

Die Weltmächte gehen in Stellung. In Lauerposition. Einander umtänzelnd. Umgarnend. Einander beobachtend. Russ*innen sind wieder Aliens, und die Aliens schicken niedliche, in amerikanische Himmel entschwebende Ballone. Vielleicht sind die Aliens Chinesen. Oder umgedreht.

Taktierend. Paktierend. Neue Allianzen entstehen, die dem so genannten Westen, dem edlen Ritter hoch zu Ross, zutiefst unverständlich sind. Was machen die da unter sich? Was machen die da unter sich aus? So allein, ohne die West-Nanny, die ihnen Benehmen beibringt und korrektes Nehmen. Das sind jetzt aber schon viele so allein. So allein zusammen. Die haben alle die falschen Freunde. Der Krieg hat Geburtstag. Er wächst. Er wächst uns über den Kopf.

Michèle Thoma
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