Architekturzentrum Wien

Wo beginnt Architektur, wo endet sie?

d'Lëtzebuerger Land vom 29.11.2001

Junge biegsame Bäumchen, zu einem Zelt zusammengeschnürt. Oder Bretter, ungelenk über eine Astgabel genagelt. Eine Plane drüber, fertig. So träumt sich nur ein Kind ein Haus und schafft sich einfach den Raum für seinen Traum, den der erwachsen gewordene Mensch so kompliziert zu gestalten sucht. Auf das Einfache zurückzugehen, auf die Kinderfrage "Mama, Papa, was ist . . .  ?", hat das Architekturzentrum Wien in den neuen Räumen im Museumsquartier zum Ausgangspunkt seiner Eröffnungsausstellung gemacht. Und inszeniert mit diesem Konzept eine tatsächliche Herausforderung. Sturm der Ruhe. What is Architecture? ist die Schau betitelt, und das Verwirrende ist nicht nur im Titel Programm. 

Recht verloren findet sich der Besucher zunächst in dem Gewölbe der neuen Ausstellungshalle. Die ist vom Boden bis zur Decke in einheitliches Orange getaucht, seitlich bergen Kojen die acht Stationen der Schau. Am Eingang Stapel von Plakaten. Innenaufnahmen eines bewohnten Hauses. Ein Sofa, ein Fitnessrad, ein hingeworfenes Handtuch, alles wirkt recht bewohnt und doch ist niemand zu sehen. Daneben Bilder von einem verlassenen Haus - abgewohnte Innenräume, die eine erste Ahnung davon geben, dass Leere zwei Seiten hat, die Leere vor und die nach dem Sturm, und dass Architektur auch mit derlei Dingen zu tun hat. Ein erster möglicher Faden durch die Schau. Benutzung heißt die erste Station, und sie macht bereits deutlich, dass es um Grundsätzliches gehen wird in weiterer Folge.

Um Grundsätzliches wie Materialität, Atmosphäre, Konzept, Orte/Nicht-Orte oder Das innere Bild, wie weitere der acht Stationen der Ausstellung benannt sind. Die Themen werden dabei nicht mit für Architektur-Ausstellungen typischen ästhetischen Bildern, Plänen und Modellen illustriert. Ein Stapel Weißtannenbretter, ein Marmorblock, eine Erzählung vom Tonband laden manchmal assoziativ, dann wieder sehr konkret zu eigenen, durchaus körperlichen Erfahrungen ein. Und stellen die Fragen, die in der sachlichen Kühle und äußeren Perfektion der Gegenwartsarchitektur manchmal aus dem Blickfeld geraten scheinen: Wo beginnt Architektur, wo endet sie? Ist Atmosphäre, dieses so wenig fassbare Eigentliche eines Raumes planbar? 

Es darf ein bisschen mehr sein in dieser Ausstellung - nämlich jenes bisschen Mehr an Unsicherheit, an scheinbar Unfertigem, das für gewöhnlich peinlichst vermieden wird. Jenes bisschen Mehr, das den Besucher auffordert, sich seine eigenen Vorstellungen zu machen und seine eigenen Antworten zu finden. Eine Annäherung über die Peripherie, über Assoziationen und Mittelbares bietet auch der Katalog. Kein Hochglanzprospekt potenter "höher, glatter, gläserner"-Planungen, sondern ein schlichtes Textbuch. Interviews mit Architekten, Essays über Ästhetik, Atmosphäre und Lifestyle. Zum Weiterdenken und Weiterfragen.

Mit Sturm der Ruhe bezieht das Architekturzentrum Wien die neu gestalteten Räume im Museumsquartier, die Zeit des nomadischen Daseins in Baucontainern und provisorisch eingerichteten Veranstaltungsräumen ist vorbei. 2 000 Quadratmeter hat das Zentrum nun für sich, das 1992 gegründet wurde und unter Leitung von Architekt Dietmar M. Steiner zu einem lebendigen Ort der Diskussion und Information geworden ist. Eine öffentlich zugängliche Fachbibliothek wurde eingerichtet - die einzige ihrer Art in Österreich. Über die homepage bietet das Zentrum auch Zugang zur umfangreichen Datenbank Architektur Archiv Austria, die das Baugeschehen in Österreich seit 1900 dokumentiert und Informationen über Architekten und Bauherren liefert. In einer Stadt, die mehr als andere auf ihre architektonische Vergangenheit setzt, hat das Architekturzentrum die bauliche Moderne für Insider und Interessierte erschlossen.

Sonntags etwa nennt sich das permanente Angebot zu einem Architektur-Ausflug zu einem jeweils aktuellen Projekt in Österreich, vor Ort erklären Architekten und Experten ihre Ideen und Konzepte. Theoretisch dagegen wird es wöchentlich mittwochs in offenen Gesprächsrunden zu städtebaulichen Projekten oder aktuellen Themen. 

Die im vergangenen Jahr begonnene Ausstellungsreihe Emerging architecture stellt jeweils zehn österreichischen Architekten mit aktuellen Arbeiten vor. Für die zweite Schau in dieser Reihe hat Kurator Otto Kapfinger ein wiederum grundsätzliches Leitwort gewählt: "Die Wirklichkeit der Architektur ist nicht das Gebaute, sondern das, was das Gebaute im Fluss des Lebens in Gang setzt." 

 

Sturm der Ruhe. What is architecture?

bis 4. März, Emerging architecture vom 5. Dezember bis 15. April. Information: http://www.azw.at

 

 

 

 

Irmgard Schmidmaier
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