Die Bedingungen für die Pflegeversicherungsreform sind eigentlich schlecht: Was die Langzeitpflege bringt, weiß keiner. Aber zum Glück herrscht ziemliche Einigkeit, dass sie überfinanziert ist

Einen Deal machen

d'Lëtzebuerger Land vom 11.07.2014

Hätte die Abgeordnetenkammer am Dienstag nach der drei Stunden langen Debatte über die Reform der Pflegeversicherung den Redner mit dem größten Unterhaltungswert prämiert, dann wäre der Preis an Edy Mertens von der DP gegangen. Denn der Chamber-Newcomer aus dem Norden ist Allgemeinmediziner in Wilwerdingen und kennt Pflegefälle und wie sie versorgt werden aus seiner Praxis als Hausarzt. Mehrmals rief er von der Rednertribüne: „Hören wir doch mit diesem Unfug auf!“

Mit Unfug meinte er vor allem eine Bürokratie, die mehr für sich selber da sei als für die betroffenen Leute. Eine Bürokratie, die Umbauten der Wohnungen von Gebrechlichen und Gehbehinderten an deren Bedürfnissen vorbeiplane und damit der Pflegekasse unnötige Kosten verursache. Oder die verlange, dass in Alten- und Pflegeheimen die Versorgung „mit der Stoppuhr“ erfolge, weil Pflegeakte nach dem kanadischen System, das in Luxemburg gilt, in Minuten gemessen werden.

Aber was sollten die Parlamentarier auch groß antworten auf die 28 Fragen, die Sozialminister Romain Schneider (LSAP) ihnen nur eine Woche vor dem Débat de consultation geschickt hatte? Ob die Pflegebedürftigkeit vielleicht mit einem „nouvel outil d’évaluation“ gemessen werden sollte, hatte Schneider zum Beispiel wissen wollen, denn das derzeit gebräuchliche werde „régulièrement mise en question par certains prestataires et bénéficiaires, notamment du fait qu’elle comporte une part inévitable de subjectivité“. Oder ob es womöglich besser sei, einzelne Leistungen in Pauschalen zusammenzufassen, weil das „une plus grande flexibilité et une simplification opérationnelle“ bringe.

Man habe dazu nicht genug Hintergrundinformationen, beklagte die Opposition aus CSV und ADR. Die Koalitionsfraktionen waren etwas höflicher und gaben dem Minister manche seiner Fragen anders formuliert zurück. Oder erzählten Anekdoten wie der Liberale Mertens. Wer die Debatte verfolgte, konnte meinen, Minister und Abgeordnete drehten sich im Kreis. Dabei soll, den parlamentarischen Spielregeln nach, ein Débat de consultation eigentlich dazu dienen, sich über eine Vorlage der Regierung auszutauschen.

Doch im Moment besteht die einzige Vorlage in jener Bilanz über 13 Jahre Pflegeversicherung, die Ende 2012 die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) noch für Schneiders Vorgänger Mars Di Bartolomeo angefertigt hatte. Sie ist zwar über 300 Seiten lang, doch am Schluss steht, sie sei „loin d’être complet“ und alle Akteure der Branche, wer auch immer sie seien, werden herzlich eingeladen „à completer le présent bilan par des études particulières sur les sujets qui n’ont pas encore pu être traités à ce stade-ci de la réflexion“. Eine Wunschliste zählt auf, was noch fehlt. Zum Beispiel Aufschluss darüber, welche Leistungen in Alten und Pflegeheimen doppelt finanziert werden. Oder was von der „geriatrischen Reedukation“ hierzulande zu halten ist.

Soll heißen: Niemand weiß genau, wozu das Geld aus der Pflegekasse dient und was die Langzeitpflege überhaupt bringt. Man weiß, dass zwischen 1999 und 2010 die Pflegebedürftigen im Schnitt anderthalb Jahre lang Pflegeleistungen bezogen, ehe sie starben. Und dass die Pflegekasse dafür 2010 fast 450 Millionen Euro ausgab. Ist das zu viel Geld für nur anderthalb Jahre in Pflege? Wer weiß. Erstaunlicherweise verbringen daheim von mobilen Diensten Versorgte im Schnitt nur elf Monate in Pflege, ehe sie sterben, in Heimen Versorgte 27 Monate, und wer erst zuhause betreut wird und später ins Heim geht, 36 Monate. Warum all das so ist, wurde noch immer nicht aufgeklärt, dabei soll die Pflegeversicherung prioritär die Zuhaus-Betreuung fördern, weil sie preiswerter ist. Dafür sind die Ausgaben der Pflegekasse bis Ende vergangenen Jahres auf 550 Millionen Euro gewachsen.

Eigentlich sind das keine guten Bedingungen für eine Pflegeversicherungsreform. Jedenfalls nicht für eine, bei der es vor allem ums Geld geht. Eine Note introductive des Sozialministeriums an die Abgeordneten vor der Debatte beschreibt eine ziemlich dramatische Entwicklung der Pflegekassenlage. Der Kassenabschluss fürs vergangene Jahr, der erst in ein paar Wochen offiziell publik wird, werde ein Defizit von 1,47 Millionen Euro ausweisen. Was nicht etwa wenig sei: Innerhalb von fünf Jahren hätten die Pflegeausgaben um 54 Prozent zugenommen, die Einnahmen dagegen nur um 29 Prozent. Im Grunde aber kann niemand sagen, was von dem vielen Geld zweckmäßig eingesetzt wird – und ob es vielleicht ganz normal ist, dass die Pflegekasse immer mehr Geld braucht. Die Zahl der Leistungsempfänger wächst schließlich kontinuierlich; allein zwischen 2010 und 2013 nahm sie um fast 1 500 Personen zu.

Ganz offiziell politisch mitverursacht ist die komplizierte Kassenlage auch: Schon 2004 wies ein Jahresabschluss der Pflegekasse ein erstes Mal unterm Strich ein Minus aus und es war abzusehen, dass der Trend nicht besser werden würde. Denn die fünf Jahre vorher gestartete Pflegeversicherung näherte sich ihrem Reifestadium. Viel weniger Pflegebedürftige als in den Jahren zuvor mussten neu erfasst und evaluiert werden. Im Gegenzug waren die Kosten nun hoch. Doch als die Tripartite im Frühjahr 2006 entschied, was zu tun sei, wurde nicht nur vereinbart, den Beitragssatz von einem Prozent auf 1,4 Prozent des steuerpflichtigen Einkommens der Versicherten zu erhöhen. Auf Betreiben der damaligen CSV-LSAP-Regierung wurde obendrein beschlossen, dass bis auf Weiteres nicht mehr 40 Prozent der Pflegeausgaben aus der Staatskasse bezahlt würden, sondern der Staat jährlich 140 Millionen Euro zuschösse. Erst 2013 trat der Status quo ante wieder in Kraft – über zwei Etappen, in denen die Pflegekasse 2011 zunächst 30 Prozent, 2012 dann 35 Prozent ihres Aufwands erstattet bekam.

Die Einführung der Quellensteuer auf Zinserträge hatte der Pflegekasse ebenfalls Verluste beschert, schon ab 2006. Denn im Unterschied zu Kranken- und Rentenversicherung gibt es zur Pflegeversicherung nicht nur keinen Arbeitgeberbeitrag und keine Beitragsobergrenze. Die Beiträge werden auch nicht auf das Bruttoeinkommen erhoben, sondern auf das steuerpflichtige Einkommen nach Abzug von Kranken- und Rentenversicherungsbeiträgen. Doch die Idee der damaligen LSAP-Sozialministerin Mady Delvaux-Stehres und ihrer Partei, nach dem Vorbild der französischen Contribution sociale généralisée ein neue Form von Solidargemeinschaft zu schaffen, für die auch Einkünfte aus Mieten, Zinsen und Dividenden herangezogen würden, drohte mit der automatischen zehnprozentigen Zinsertragsteuer für in Luxemburg Ansässige zur Utopie zu werden: Da Zinseinkünfte bei Luxemburger Kreditinstituten auf der Einkommenssteuererklärung nicht mehr erwähnt werden mussten, erfuhr die Steuerverwaltung davon nichts mehr. Es zu separat zu berechnen, erklärte sie sich für nicht befugt, weil das im Hinblick auf die automatische Quellensteuer nirgends vorgesehen sei. Erst 2012 gab das Berufungsgericht einer Klage der CNS, die die Pflegekasse verwaltet, Recht und verurteilte den Staat zu einer Nachzahlung. Worauf die Pflegekasse noch im selben Jahr eine unerwartete 30-Millionen-Spritze erhielt.

Auf längere Sicht aber hätte es die Pflegekasse weder gerettet, wenn sie zwischen 2006 und 2011 Beiträge auf Zinsen erhalten, noch wenn der Staat zwischen 2007 und 2012 die vollen 40 Prozent ihrer Ausgaben kompensiert hätte. Die Zahl der Pflegeleistungsempfänger nimmt schließlich zu, weil die Lebenserwartung steigt, die Lebenserwartung bei guter Gesundheit dagegen weniger rasch. Für 2030 wird mit 18 000 Pflegebedürftigen gerechnet.

Gerade deshalb aber ist es nicht unbedingt plausibel, weshalb der Königsweg zur Verbesserung der Pflegekassenlage für die blau-rot-grüne Regierung in einer Ausgabensenkung besteht und eine Beitragserhöhung nur „en cas de nécessité avérée“ in Frage kommen soll, wie der Koalitionsvertrag festhält. Immerhin: Da zur Pflegeversicherung kein Arbeitgeberbeitrag erhoben wird, drohte kein Konflikt mit der UEL um Lohnnebenkosten. Und die IGSS-Bilanz über die Pflegeversicherung für die vorige Regierung hatte noch suggeriert, womöglich könnte schon in zwei Jahren der Beitragssatz von 1,4 auf 1,5 Prozent angehoben werden.

Aber wenn nächstes Jahr schon die Mehrwertsteuer steigt und im Jahr danach die Diskussion um eine „allgemeine“ Steuerreform beginnen soll, will Blau-Rot-Grün die Stimmung in der Bevölkerung nicht durch höhere Pflegeversicherungsbeiträge belasten. Was man in der CSV-Fraktion ganz ähnlich sieht. Außerdem geht der Sozialminister davon aus, dass die Reform erst in der zweiten Hälfte nächsten Jahres verabschiedet werden kann, wenn Luxemburg die EU-Präsidentschaft innehat und man Auseinandersetzungen über neue Lasten für die Leute lieber nicht führt.

Hinzu kommt, dass die Koalition keine ganz einheitliche Meinung zur Einführung von Eigenbeteiligungen auf die Pflegeleistungen hat. In Verwaltungskreisen der Sozialversicherung, aber auch bei der DP, sind sie durchaus kein No-go. Weshalb im Koalitionsvertrag vorsichtig formuliert steht, die Pflegekasse solle künftig nur für das „Nützliche und Notwendige“ aufkommen. Eigenbeteiligungen fänden womöglich auch die Zustimmung der CSV-Fraktion, deren neuer sozialpolitischer Sprecher Serge Wilmes am Dienstag erklärte, darüber sollte „in Ruhe und ohne Tabus“ diskutiert werden können. LSAP und Grüne aber sind dagegen, und Romain Schneider meinte am Schluss der Parlamentsdebatte: „Eigenbeteiligungen kann ich mir nicht vorstellen, davon will ich nichts mehr hören.“ Damit scheint diese Option begraben.
Dagegen macht es für die Regierung auch haushaltspolitisch Sinn, die Ausgaben der Pflegekasse senken zu wollen. Weil sich der Staat an den Ausgaben der Pflegeversicherung beteiligt und nicht prozentual an den Einnahmen, wie bei Kranken- und Rentenversicherung, ist jeder Euro, den die Pflegekasse weniger ausgibt, ein Beitrag zum „strukturellen Überschuss“ in der Staatskasse. Die Konsultationsdebatte im Parlament diente auch zum Sondieren, wie das die anderen politischen Lager sehen. Doch nur der Lénk-Abgeordnete Serge Urbany wetterte, dass die IGSS-Bilanz zur Pflegeversicherung „vor Sparvorschlägen nur so strotzt“ und ein Stück „Austerität“ sei.

Wenn alle anderen dieser Meinung nicht sind, Taina Bofferding, neue sozialpolitische Stimme der LSAP-Fraktion, sogar findet: „Die Reform ist nötig, weil die Ausgaben besonders schnell steigen“, dann hat das allerdings auch damit zu tun, dass hinter den parlamentarischen Kulissen, bei der Sozialversicherung und sogar bei den Dienstleistern eine gewisse Einigkeit darüber herrscht, dass die Pflegeversicherung tatsächlich überfinanziert ist.

Der wichtigste Kontrahent der Regierung beim Aushandeln einer Reform, die die Pflegeausgaben senken will, ist der Pflegedienstleisterverband Copas mit seinem Präsidenten Marc Fischbach, dem früheren CSV-Minister. Als Romain Schneider der Copas im April zu einer Heure de discussion begegnete, machte Fischbach klar, der Verband sei bereit zur Diskussion über höhere Beiträge der Versicherten und einen höheren Staatsbeitrag, nicht aber über die Tarife der Pflegeleistungen. Doch ganz beinhart ist die Copas-Position nicht: Man könne auch über das „Volumen“ der Leistungen reden, ließen die Pflege-Patrons am Montag wissen; das habe man den Vertretern von DP, LSAP, CSV und déi Lénk zu verstehen gegeben, mit denen bislang über die Pflegereform diskutiert worden sei.

Dieses Entgegenkommen enthält auch ein Eingeständnis, dass verschiedene Leistungen zu viel und unnötig verabreicht werden. Es kommt nicht von ungefähr, dass die IGSS in der Pflege-Bilanz suggerierte, eine der ersten Kategorien von Leistungen, über die man „nachdenken“ sollte, sei der „Soutien“. Nicht nur, weil die Ausgaben dafür besonders stark zugenommen haben und sich ihr Anteil an den Gesamtausgaben der Pflegekasse von 13 Prozent im Jahr 2001 auf 26 Prozent im Jahr 2011 verdoppelt hat. Wogegen der Anteil für die Hilfen bei den Verrichtungen des täglichen Lebens – Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme, der Körperpflege und bei der Fortbewegung –, die eigentlich die Hauptaufgaben der Langzeitpflege sein sollen, im gleichen Zeitraum von 56 Prozent auf 50 Prozent sank, obwohl gleichzeitig die Zahl der Pflegebedürftigen um 87 Prozent wuchs.

Die Lage um den Soutien ist leider symptomatisch für das Funktionieren der Pflegeversicherung: Der Leistungskatalog wurde immer weiter ausgeweitet, aber ohne genau zu wissen wofür. Selbst die Copas, die den Soutien für „ganz wichtig“ hält, kann keine wissenschaftliche Quelle nennen, die zeigt, was diese Art der Leistung für Resultate zeigt, und will erst für die Journée de réflexion, die der Sozialminister im Herbst zur Pflegeversicherungsreform abhalten will, „starke Argumente“ sammeln, sagt Copas-Sprecherin Monique Putz.

Der Nachdenk-Tag könnte sehr bedeutsam sein: Dort könnte die Copas einwilligen, dass man bestimmte Leistungen einfach anders verordnet und vergibt, so dass sich eine verbindliche Ausgabenkürzung berechnen lässt. Seltsamkeiten gibt es genug: Acht Stunden an – teurem – Soutien werden aus der Pflegekasse zum Beispiel auch dann bezahlt, wenn eine regelrechte Betreuung der pflegebedürftigen Leute nur während sechs Stunden stattfindet und sie in der verbleibenden Zeit vielleicht zwischen ihrem Zuhause und einer Tagesstätte hin- und hertransportiert werden oder in einem Heim eine Mahlzeit einnehmen.

Dass das so kommen konnte, geht auch auf eine Konstellation à la luxembourgeoise zurück: Verschrieben werden die Pflegeleistungen durch die staatliche Cellule d’évaluation et d’orientation mit dem persönlichen Pflegeplan. Da leuchtet ein, dass schon seit 1999 eine einheitliche Pflegedokumentation bestehen soll, anhand der sich analysieren ließe, was geleistet wird und was das bringt. Seit 2007 ist überdies eine paritätisch besetzte Qualitäts- und Normenkommission vorgesehen. Der Pflegedokumentation aber widersetzte sich während all den Jahren das CSV-geführte Familienministerium, weil es für „seine“ Heime eigene Regeln setzen wollte. Und wenn schon Familien- und Sozialministerium sich nicht einig waren über die Datenbasis, fiel es der Copas umso leichter, einen einheitlichen Rahmen, der von oben her definiert hätte, was Qualität in der Pflege ist, abzulehnen. Für die Pflegeversicherungsreform ist nicht nur ein Deal mit der Copas nötig. Sie ist auch ein Stück Emanzipation vom CSV-Staat.

Peter Feist
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