DP-Bildungspolitik

Kurswechsel

d'Lëtzebuerger Land vom 15.05.2008

Es war nur ein kleines Votum, aber für die DP kam es einer Offenbarung gleich. Als das Parlament vor zwei Wochen über die Laborschule Eis Schoul entschied, enthielt sich die liberale Fraktion mehrheitlich, der Abgeordnete Eugène Berger aber stimmte für den Modellversuch. Spätestens da war für alle Welt sichtbar, was Insider schon länger wussten: In der Partei tobt ein heftiger Streit um die künftige Ausrichtung in der Schulpolitik. 

Wobei die größte Schlacht geschlagen scheint. Sieger nach Punkten: Eugène Berger. Wenige Tage vor dem Votum auf dem Krautmarkt, am 28. April, hatte der Nationalrat der Partei den Kurswechsel bereits bewilligt und festgezurrt. Dem waren intensive Vorarbeiten einer internen Arbeitsgruppe vorausgegangen, die unter Mitwirkung von Berger an einem neuen schulpolitischen Richtungspapier getüftelt hatte.

Was da jetzt auf 17 Seiten geschrieben steht, ist zwar keine Revolution, aber doch ein klarer Bruch mit der DP-Bildungspolitik der vergangenen Jahre. Leistung, Fleiß, Höflichkeit, im 2004-er-Wahlprogramm allesamt Lieblingsvokabeln der damaligen Unterrichtsministerin Anne Brasseur, sind verschwunden. Stattdessen halten Stichwörter wie Individualisierung der Bildungswege, neue Lehrmethoden und Interdisziplinarität Einzug in die liberale Programmatik.

Unter dem Motto Vielfalt als Chance bekennt sich die Mittelstandspartei zur heterogenen Schülerschar und zu mehr Chancengerechtigkeit. Wobei sie diese vor allem als „Freiheit“ zur Persönlichkeitsentfaltung verstanden wissen will. Schulen sollen ausgebildete Direktoren sowie (noch) mehr Autonomie bekommen und ihr Lehrpersonal selbst wählen können, wahlweise soll die Alphabetisierung auf Französisch möglich sein. Indem die Partei vorsichtig das 60-Punktesystem hinterfragt, weil es die Fortschritte des Einzelnen „nicht mehr adäquat erfassen kann“, und die Ganztagsschule eine „sinnvolle“, freiwillige Alternative zur Maison relais nennt, rührt sie gar an lang gehegte Tabus –  gegen beides hatte sich Brasseur stets vehement gewehrt. 

Vergeblich, wie sich nun zeigt. Während in der blau-grünen Hauptstadt die Grünen das Ruder im Schulressort übernommen haben, sinkt Brasseurs Stern als liberale Bildungsexpertin auch auf nationaler Ebene. Zum Teil ist das ihre eigene Schuld. Obwohl es ihr gelang, die Autonomie der Lyzeen zu vergrößern, sie die Weichen für eine systematische Evaluation der Schullandschaft stellte und die Reform der Primärschule vorbreitete, war es ihre sozialistische Nachfolgerin, die die wirklich heißen Eisen anpackte. Selbst klare Erfolge, wie das unter ihrer Ägide in die Wege geleitete Pilotprojekt im unteren Zyklus der technischen Sekundarschule (Proci) vermochte Brasseur kaum für sich zu nutzen: Obwohl die Proci-Schulen beim Pisa-Test 2006 im Vergleich die besseren Resultate erzielten, sprach sich Brasseur in einem Land-Interview im November gegen eine Generalisierung des Modells aus und dafür, das Geld für die Verbesserung des herkömmlichen Systems zu verwenden.  

Ihr halsstarriges Festhalten an überkommenen Überzeugungen und ihr politisches Standing erschwerten der Partei, nüchterne Konsequen-zen aus der Wahlniederlage zu ziehen. Es dauerte, bis Brasseur ihren Angriffen auf den politischen Gegner selbst die Schärfe nahm, von ihrer eher konservativen Linie wich sie nicht. Doch da hatten die jungen Löwen um Parteipräsident Claude Meisch die interne Modernisierung bereits beschlossen. 

„Mit dem Papier zeigen wir, dass die DP eine fortschrittliche liberale Partei ist“, sagt Eugène Berger auf Land-Nachfrage, und er betont, „niemand persönlich angreifen“ zu wollen. Die realistischere Lesart lautet: Die Liberalen hatten keine andere Wahl. Das, wozu sich die DP jetzt durchgerungen hat, empfehlen internationale Experten seit Jahren – und noch mehr. Bloß sträubte sich die Partei, allen voran Brasseur, dies wahrzuhaben. Und geriet zunehmend ins schulpolitische Hintertreffen.

Wie groß der Änderungsdruck ist, beweist nicht zuletzt die kleinlaute Kritik an der bisherigen Bilanz schwarz-roter Schulpolitik. Im Falle einer Regierungsbeteiligung nach 2009 werde man die eingeleiteten Reformen „nicht alle zurücknehmen“, heißt es im Papier. Angeblich, um nicht noch mehr Unruhe zu verursachen. Fundamentalkritik gibt es aber keine, das würde ja bedeuten, das Schulsystem als solches in Frage zu stellen und so weit geht der Änderungswille nicht. Der Vorschlag, statt der aktuellen Orientierung eine zweijährige Orientierungsphase sowie modulare Wahl- und Pflichtfächer im Lyzeum einzuführen, wurde vom Nationalrat „zur Diskussion“ zurückbehalten.

Aber auch so ist die Neuausrichtung für die Liberalen nicht ohne Risiko. Berger, der als einziger Luxemburger den Mount Everest erklomm  und der das Reflexionspapier zur Bildungsoffensive 1999 verantwortete, mag zwar fürs erste Kämpferqualitäten und einen langen Atem bewiesen haben, ein politisches Schwergewicht ist er dadurch noch nicht. Als Staatssekretär für Umwelt in der schwarz-blauen Koalition schaute er hilflos zu, wie er vom Minister und Parteikollegen Charles Goerens mehrfach ausgebremst wurde. Er habe aus seinen Fehlern gelernt, sagt Berger heute.Diese Sorgen hat Anne Brasseur nicht. Sie kann nicht nur auf die längere politische Karriere zurückblicken und auf handfeste Erfahrungen als Unterrichtsministerin. Mit ihrem exzellenten Resultat bei den Gemeindewahlen 2005 bekräftigte sie, dass an ihr kein Weg vorbeiführt. Beliebt ist sie vor allem bei Rechten und Beamten – und die wären nun zunehmend ohne Heimat. Zumal die CSV ebenfalls dabei ist, alte Gewissheiten zu überdenken, wie ihr Ja zu Eis Schoul zeigt.

Für die DP bleibt da nur, einen Zahn zuzulegen, will sie den von Meisch und Generalsekretär Georges Gudenburg formulierten Anspruch erfüllen, die fortschrittlichere Kraft im Land zu sein. Die DP hofft, so  Stammwähler zurück gewinnen zu können, die aus Frust über die groß angekündigte, aber eher klein ausgefallene Bildungsoffensive zu den Grünen abwanderten. Das Problem der Wechselwähler, auf deren Stimmen die DP für einen Wahlsieg angewiesen ist, ist damit aber nicht gelöst und ob der Plan aufgeht, die Partei als „Liberale Grüne“ aufzustellen, bleibt noch zu beweisen. Denn die Grünen haben die „génération échec“ selbst zum Wahlkampfthema erkoren.

So üben sich die Liberalen im Spagat: sich einerseits als Partei mit schulpolitischem Durchblick zu präsentieren, die an alte Erfolge anknüpfen will, andererseits den konservativen Mief endlich zu vertreiben und offen für neue Ideen und politische Bündnisse zu sein – ohne dadurch die Skeptiker in den eigenen Reihen sowie potenzielle Wähler zu verschrecken. Selbst für einen geübten Bergsteiger ein schwieriger Balanceakt.

Ines Kurschat
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