Beschäftigungspolitik für Behinderte

Marktfragen

d'Lëtzebuerger Land du 26.03.2003

2003 ist in der EU das  "Jahr der behinderten Menschen", aber auch das der wachsenden Beschäftigungs-probleme in Luxemburg. Ein Grund, weshalb Behinderte es ausgerechnet in dem ihrer besseren gesellschaftlichen Integration gewidmeten Jahr besonders schwer haben, auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden. 282 betrug die Zahl der bei der Arbeitsmarktverwaltung Anfang dieses Monats registrierten Jobsuchenden mit Statut "travailleur handicapé". 1999, als ihre separate Erfas-sung bei der Adem begann, waren es 150 gewesen. Die Gesamtzahl der "travailleurs handicapés" hat sich in den vier Jahren indes nicht nahezu verdop-pelt: 1999 lag sie bei1 909, am 1. März 2003 waren es 2 836 Menschen, die eine Minderung ihrer Arbeitsfähigkeit von 30 Prozent oder mehr aufwiesen - was Anrecht gibt auf spezielle Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, Umgestaltung von Arbeitsplätzen, sechs Tage Urlaub mehr und für den Arbeitgeber die Übernahme von 40 bis 60 Prozent der Lohnkosten durch den Staat derzeit.

 

Bis zu 100 Prozent sollen es werden, wenn das Gesetz über die Einkommenslage Behinderter verabschiedet wird, das sich noch auf dem Instanzenweg befindet. Dennoch hat auf Patronatsseite die zumindest in Kampagnen gegenüber den Firmenleitungen Anfang der 90-er Jahre bekundete starke Bereitschaft zur Einstellung Behinderter Zurückhaltung Platz gemacht. Schon immer hätten die Betriebe Mitarbeiter, die vom Arbeitsmediziner für an ihrem letzten Arbeitsplatz arbeitsunfähig erklärt wurden, weiter zu beschäftigen versucht, sagt Pierre Bley, Generalsekretär der Union des entreprises luxembourgeoises (UEL). Aus Wettbewerbsgründen werde das aber immer schwerer.

 

Wohinter sich ein Nachhutgefecht gegen das im Sommer letzten Jahres  verabschiedete Gesetz über die Berufsinvalidität verbirgt, dem ein langes Hin und Her in der Tripartite vorausgegangen war. Nicht unmittelbar haben "travailleurs handicapés" etwas mit den auf ihrem letzten Arbeitsplatz für arbeitsunfähig Erklärten zu tun. Doch die Regierung setzte durch, dass ein Unternehmen zur internen Neueinstellung eines für arbeitsunfähig Erklärten verpflichtet wird, falls es seine Quoten zur Beschäftigung von "travailleurs handicapés" nicht erfüllt. Diese Quoten sind seit 1991 geltendes Recht. Sie erlegen dem öffentlichen Dienst auf, fünf Prozent seiner Arbeitsplätze mit "travailleurs handicapés" zu besetzen, im Privatsektor ist die Quotierung abhängig von der Betriebsgröße: Firmen mit 25 bis 50 Mitarbeitern sollen wenigstens einen Behinderten beschäftigen, Betriebe mit 50 bis 300 Mitarbeitern zwei Prozent, Firmen mit mehr als 300 Mitarbeitern vier Prozent ihrer Belegschaft. Die Beihilfen zu Lohnkosten und zur Umgestaltung von Arbeitsplätzen sollten das erleichtern.

 

Doch auf eine rigide Kontrolle der Quoten im Privatsektor wurde 1991 nach Patronatseinspruch verzichtet. So dass der Service des travailleurs handicapés (STH) bei der Adem die Beschäftigungslage Behinderter lediglich ab-schätzen kann. Nur "si le service des travailleurs handicapés de l'Adem se trouve saisi d'une demande d'emploi émanant d'un travailleur handicapé répondant à l'aptitude requise dans l'entreprise" erwächst dem STH laut Gesetz Kontroll- und Sanktionsgewalt. Verweigert ein Arbeitgeber die Einstellung, müsste er für die Dauer dieser Weigerung die Hälfte des sozialen Mindestlohns an den Staat überweisen. Was bisher noch nie nötig wurde, erklärte Familienministerin Marie-Josée Jacobs erst vor sechs Wochen auf eine parlamentarische Anfrage hin. Die Regelung zur Neueinstellung Arbeitsunfähiger sorgt jedoch seit Januar für Transparenz, da eine neu geschaffene Kommission die Einhaltung der Behinderten-Quoten überprüft, sobald es einen berufsinvaliden Antragsteller auf Weiterbeschäftigung gibt. Und bislang, sagt der zuständige Beamte im Arbeitsministerium, seien die Betriebe "angenehm bereit" zu internen Neueinstellungen.

 

Woraus sich einerseits schließen lässt, dass die Beschäftigungsquoten Behinderter noch längst nicht erfüllt werden. Da andererseits ein Weiterbeschäftigen bereits mit dem Betrieb Vertrauter unternehmerischer Logik entspricht, entsteht die Frage nach den Umständen, unter denen Behinderte auf einen Übergang in den regulären Arbeitsmarkt vorbereitet werden. Es gebe ein "Ausbildungsproblem", sagt Pierre Bley von der UEL. Der Meinung ist auch der Sozialsekretär der Handelskonföderation, Romain Jeblick: "Man müsste das endlich systematisch analysieren."

 

Angaben dazu sind spärlich. Dass seit 1999 drei Ministerien für verschiedene Aspekte der Behindertenpolitik zuständig sind, erleichtert die Lage offenbar nicht: die politische Richtlinienkompetenz obliegt der Familienministerin, für Beschäftigungsfragen ist das Arbeitsministerium zuständig und für die Éducation différenciée sowie die Centres de propédeutique das Bildungsministerium. Dort kennt man die wenig erfreuliche Lage, was die klassische Berufsausbildung junger Behinderter angeht. Lehrverträge im Privatsektor für Abgänger der drei Centres de propédeutique seien selten, sagt Pierre Backes, der stellvertretende Leiter des Service d'éducation différenciée. Das läge an der steigenden Mehrfachbehinderung der Édiff-Schüler. Obendrein mangele es an Arbeitsplätzen selbst in geschützten Werkstätten, den Ateliers protégés. Die für die Berufsausbildung zuständige Abteilung im Ministerium weiß, dass pro Jahr zwei bis drei Behinderte aus Ateliers protégés oder Centres de propédeutique einen Antrag auf eine Lehre stellen, die zum "Certificat de capacité manuelle" führt; in Sparten wie Anstreicher oder Gärtner, doch dann belaufe sich ihr Anteil an der Gesamtzahl der Auszubildenden auf etwa ein Hundertstel und umfasse "nur die Stärksten aus den Ateliers protégés oder der Édiff". Ob sich daraus Fragen ergeben an die Qualität der Vorbildung, sei noch nicht ermittelt worden. Eventuell könne die vorgesehene Reform der Gesetzgebung zur Gesellenprüfung dazu führen. Bis dahin aber stelle sich für die Lehre Behinderter als weiteres Problem: ohne Arbeitgeber ist der Abschluss eines Lehrvertrags unmöglich. Noch ein Grund für die rasche Klärung von Ausbildungsanforderungen mit dem Patronat.

 

Weiterer Handlungsdruck entsteht aus den Ateliers protégés selbst. Der Gesetzentwurf zum Einkommen Behinderter stockt auch für sie die Lohnbeihilfen auf 40 bis 100 Prozent auf, weil den in den Ateliers Tätigen anstelle der zurzeit noch weit verbreiteten Mischformen aus Kindergeld, Invalidenrente, RMG oder Ermunterungsprämien der Mindestlohn gezahlt werden soll und künftig Arbeitsverträge zwischen ihnen und den Ateliers abgeschlossen werden sollen. Woraus sich für diese eine Zwickmühle ergibt: sie werden einerseits selbst zu privaten Arbeitgebern, andererseits soll in den Arbeitsverträgen festgehalten werden, dass beide Seiten auf eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt hinarbeiten.

 

Nur wie? - Durchschnittlich drei Prozent der in Ateliers Beschäftigten können pro Jahr in den regulären Arbeitsmarkt vermittelt werden, bilanziert das Familienministerium. Einrichtungen wie die der Fondation Kräizbierg in Düdelingen, der Ligue HMC in Capellen oder der APEMH in Bettange-sur-Messe beziffern diese Erfolgsquote von Jahr zu Jahr zum Teil noch niedriger. Zunehmend aber übernehmen die Ateliers Zuarbeiten für private oder öf-fentliche Kunden außerhalb. Für die Behindertenabteilung des OGB-L eine latente Gefahr, dass die Ausbildung in den Ateliers sich nicht weiterentwickle, Potenziale der Behinderten nicht ausreichend wecke. Zu stark noch würden die Ateliers ihre Ausbildung nach internen Anforderungen ausrichten und nicht auf die des ersten Arbeitsmarkts, sagt Joël Delvaux, Präsident der Abteilung.

 

Ein Vorwurf, den keines der Ateliers so auf sich sitzen lassen will. Es sei eine Tatsache, dass die in den Ateliers Beschäftigten "raus wollen", heißt es aus den Direktionen von APEMH oder Ligue HMC. Nie dürfe ein Atelier aus Selbstzweck seine produktivsten Mitarbeiter halten wollen, sagt APEMH-Direktorin Liette Braquet. Wirtschaftlich betrachtet aber seien gerade Vermittlungsbemühungen nach draußen sehr kostenaufwändig, sagt Thomas Rose, Leiter der Ateliers der Ligue HMC. Das gelte für die psychosoziale Begleitung der an einen Arbeitgeber Vermittelten wie auch etwa für die seit zweieinhalb Jahren bei der Gemeinde Mamer im Rahmen eines "supported employement" Beschäftigten der Ligue HMC, denen ständig ein spezialisierter Erzieher zur Seite steht.

 

Offensichtlich ist diese Begleitung entscheidend für den Erfolg einer Beschäftigung außerhalb der Ateliers. Weil eine Erzieherin der APEMH ausschließlich den Kontakt zu Betrieben sichert, in die zuvor in den Ateliers Beschäftigte unterkamen, sei die Platzierung auf dem ersten Arbeitsmarkt ganz zufriedenstellend, sagt Liette Braquet. Probleme entstünden nicht, weil nach draußen Vermittelte mit der Arbeit nicht klarkämen, sondern auf emotionaler Ebene. Das sehen auch die Arbeitgeber so: Könne psychosoziale Begleitung gesichert werden, sei eine An-stellung "viel weniger problematisch", sagt Romain Schmit, der Zuständige bei der Handwerkerföderation.

 

Woraus sich für das Arbeitsministerium, das die Konventionierung aller Ateliers protégés übernehmen soll, wenn das Gesetz über die Behinderteneinkommen in Kraft tritt, eine kruziale Frage stellt: Willigt man für Behinderte eventuell in die Schaffung eines "zweiten Arbeitsmarktes" ein? Arbeitgebervertreter finden diese Lösung nicht unelegant, weil Ateliers protégés kleine Aufträge erledigen und mangels Rentabilität nicht verdächtigt werden, Preisdumping zu betreiben. Doch einen zweiten Arbeitsmarkt wollte die Regierung nie - die Konsequenz wäre eine weitere finanzielle Stützung der Ateliers-Budgets per Konvention zur Deckung der Aufwendungen für psychosoziale Begleitung. Dem Vernehmen nach ist das Arbeitsministerium prinzipiell offen für Letzteres, wenngleich Gespräche mit der Finanzinspektion noch nicht abgeschlossen sind. Dass sie geführt werden, noch ehe klar ist, welche fachlichen Anforderungen der erste Arbeitsmarkt stellt, deutet an, wie dringend das Problem ist. Dass dessen systematische Lösung unterbleibt - dieser Eindruck ensteht allerdings auch.

 

Peter Feist
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