Ale Lycée Esch/Alzette

Eine Schule stellt um

d'Lëtzebuerger Land du 18.09.2008

„L’enseignement fondamental est organisé en cycles d’apprentissage“. Art. 18 

Wirklich neu ist die Idee von Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres nicht; Grundschulen sollen statt mit Jahrgangsklassen künftig mit Zyklen von zwei respektive drei Jahren funktionieren. In Belgien gibt es zahlreiche Schulen, in denen Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters gemeinsam lernen. Dort hat man sich schon längere Zeit von der – falschen – Annahme verabschiedet, die kindliche psychische Entwicklung laufe mit dem Lebensalter parallel und jedes Kind entwickle sich gleich schnell. Auch in Luxemburg ist der jahrgangsübergreifende Unterricht ansatzweise an einigen Primärschulen Realität, etwa in Berchem. Andere Schulen unterrichten noch im herkömmlichen altersgleichen Klassenverband, bereiten sich aber intensiv auf den Wechsel vor.

Zum Beispiel das Ale Lycée in Esch. Dort diskutieren Lehrer zusammen mit Erziehungswissenschaftlern der Universität Namur seit einigen Monaten, wie ein jahrgangsübergreifender Unter­richt aussehen kann – und was das für die Praxis der Lehrer heißt. „Für uns wird das eine größere Umstellung“, gibt Laurent Biltgen gut gelaunt zu. Der 43-Jährige mit dem dunklen Bart ist einer der „alten Hasen“ an der Escher Primärschule, die einige Erfahrung gesammelt hat, was neue Organisationsweisen und schülerorientiertes Lernen betrifft. Die Klassenwiederholung, eines der Sorgenkinder von Ministerin Delvaux-Stehres, wird am Ale Lycée ohnehin nur im Ausnahmefall praktiziert. „In den vergangenen drei Jahren hatten wir zwei Fälle“ erinnert sich Biltgens Kollege Jhemp Rabatti. Den Schüler nach Kräften zu fördern, sei von Anfang an das Ziel der Multikulti-Schule gewesen, die sich als Leitmotive „Gemeinschaft“ und „Solidarität“ gesetzt hat. 120 Kinder aus elf Nationen, darunter ein Großteil Portugiesen, lernen am Ale Lycée. Wegen des hohen Anteils lusophoner Mädchen und Jungen gibt es einen Muttersprachler fürs Portugiesische; er ist Teil der Gesamt-Equipe und nimmt, wie der Sportlehrer und die Vertretung vom Service rééducatif ambulatoire (Srea), an der Lehrerbesprechung teil. 

Jeden Freitag sitzen sie zusammen, um über Orientierung, eine Reise oder ein Problem eines Schülers oder einer Klasse zu beraten. Was eben so ansteht. In den vergangenen Monaten aber lag der Schwerpunkt auf der Schulorganisation, denn ab dieser Rentrée will die Schule allmählich auf Zyklen umstellen. Dazu werden im Mittelgrad, der die 3. und 4. Klasse umfasst und den Laurent Biltgen und Jean-Pierre Abatti betreuen, künftig sieben Stunden die Woche im Team unterrichtet. Bis­her waren nur die wöchentlichen Ateliers jahrgangs­übergreifend. Dort treffen sich Jungen und Mädchen von der 1. bis zur 6. Klasse, um gemeinsam Theater zu spielen, Geschichten zu schreiben, Bücher zu lesen oder zu basteln. Die Werkstätten gibt es weiterhin. Ab Herbst jedoch werden die Klas­sen zu Zweijahreszyklen zusammengefasst, die altersgleichen Lehrgruppen sollen verschwinden. Acht- bis Zehnjährige lernen künftig zusammen. 

Dafür wurden die Stunden der Assistenzlehrer und der Lehrer so zusammengelegt, dass während sieben Stunden drei Lehrkräfte zwei Klassen zusammen unterrichten statt bisher ein Lehrer eine Klasse plus zusätzlicher Lehrkraft. „Die Zusammenarbeit wird die größte Änderung“, sagt Biltgen, der neuerdings den Unterricht für den Mittelgrad mit seinen Kollegen zusammen vorbereitet. Aus zwei Unterrichtsprogrammen wird eines. Ganz neu ist das Teamteaching aber nicht: Abatti und Biltgen haben sich, wie ihre andere Kollegen auch, bereits in der Vergangenheit ausgetauscht und oder gegenseitig Tipps gegeben; aber ab jetzt werden sie sich jeden Montag zwei Stunden fest besprechen. Außerhalb der regulären Arbeitszeit. 

Angst vor der neuen Herausforderung und dem Mehraufwand haben die Escher trotzdem nicht: „Das passt zu unserer Philosophie“, betont Biltgen, der Mitglied der Gruppe von Reformpädagogen ist, dem Groupe luxembourgeois de l’éducation nouvelle (Glen). Seit Bestehen hat die Schule neue pädagogische Wege beschritten. Als eine der ersten Primärschulen im Land hat das Ale Lycée zusätzlich zur klassischen Benotung eine Bewertung auf der Grundlage von Kompetenzen entwickelt – lange bevor die sozialistische Ministerin dies zum Leitkanon ihrer Schulreformen erkoren hat. Das von belgischen Schulen inspirierte Ergänzungszeugnis erlaubt einen präziseren Überblick, wo der Schüler in seinem Lernprozess jeweils steht. Ein ähnliches Modell funktioniert im Norden, wo unter der Leitung von Inspektor Guy Masselter und mit Unterstützung des Ministeriums ab dieses Schuljahr 800 Schüler das Complément au bulletin zusätzlich zum herkömmlichen Zeugnis bekommen werden.

Auch die so genannte Binnendifferenzierung, A und O für das Gelingen eines individualisierten Unterrichts ist, kennen die Escher schon: Wer zusätzlich Hilfe durch den Srea oder einen Assistenzlehrer brauchte, bekam diese innerhalb der Klasse. „Wir halten nicht viel davon, Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld zu entfernen und ihnen dadurch den Stempel des Nachzüglers aufzudrücken“, so Biltgen. Und dann wäre da noch der Wochenplan: Je nach Nachholbedarf, erhält ein Schüler oder eine Schülerin Aufgaben, die er oder sie in der Freiarbeit selbständig bearbeitet. Die Methode hat zwei Vorteile: Sie erlaubt dem Lehrer, den Unterricht stärker zu differenzieren und auf die Bedürfnisse des einzelnen Schülers einzugehen. Der lernt zugleich, selbständig seinen Lernprozess zu organisieren. Den Wochenplan würde Biltgen am liebsten noch durch ein Portfolio ergänzen, wie ihn die Kollegen im Obergrad schon einsetzen. „Aber wir sind mit den Jahren realistisch geworden“, sagt Biltgen. Jetzt heißt es erst einmal: volle Kraft voraus für die Zyklen.

Ines Kurschat
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