Sprachenunterricht

Das Mammut lebt

d'Lëtzebuerger Land du 18.09.2008

Es ist ruhiger geworden in der Bildungspolitik. Ein Jahr vor den Wahlen tun sich Journalisten schwer, Neues von der Bildungsfront zu vermelden, von Hiobsmeldungen wie der Bildungsstudie Pisa bleibt Luxemburg dieses Jahr vorschont. Ein Lehrerstreik scheint abgewendet. Selbst vom Sprachenaktionsplan (Pal), den Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) als ihre „Riesenbaustelle“ bezeichnet hat, ist nicht viel zu hören. Was aber nicht heißt, dass nichts geschieht. 

Das viel bemühte Bild vom Bauen passt: Nachdem mit dem Sprachengutachten des Straßburger Europarats und dem Sprachenaktionsplan im Jahr 2006 die Weichen für eine Großreform des Sprachenunterrichts gestellt wurden, bemühen sich die Mitarbeiter im Ministerium nun da­rum, Fleisch auf die Knochen des Skeletts zu bekommen. Der letzte Meilenstein war der in Zusammenarbeit mit der Uni Luxemburg erstellte Sprachenaktionsplan. Der kam aber ziemlich unausgegoren daher. Mit 66 Maßnahmen, die von der Ein­führung eines Latein-Preises über eine stärkere Berücksichtigung der Erstsprache bis hin zur Einführung von Kompetenzen reichen, las sich das 107 Seiten fassende Werk eher wie ein Brainstorming, denn wie ein in vielen Gesprächen zwischen Ministerium, Schulen und Experten gereiftes kohärentes Aktionsprogramm für die zukünftige Sprachenpolitik in der luxemburgischen Schule. Die schiere Menge und die Vielfalt der Aktionen erlaubten kaum, eine Prioritätenliste zu erstellen, welche Schritte zuerst umzusetzen sind, sodass das Ministerium den Plan bald nach Erscheinen hinten anstellte. 

„Wir reden nicht über Einzelmaßnahmen, sondern konzentrieren uns auf die großen Linien“, sagt Amina Kafaï. Sie koordiniert die sechs Arbeitsgruppen, welche die Mammut­reform vorbereiten sollen. Woche für Woche, Monat um Monat haben sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen über Mindeststandards, Noten, Bildungsmonitoring, Kommunikation, Weiterbildung und andere Bereiche den Kopf zerbrochen. Die im Sprachenplan aufgelisteten Aktionen wurden den sechs Themenbereichen zugeordnet – um sicherzustellen, dass sie im Verlauf der komplizierten Beratungen nicht in Vergessenheit geraten. „Zunächst war es wichtig, eine Gesamtstrategie fest­zulegen“, so Kafaï. Weil die Mehrsprachigkeit alle Bereiche des Schulsystems durchzieht und eben nicht nur den Sprachenunterricht betrifft, hat das Ministerium eine vernetzte Vorgehensweise gewählt, die alle Abteilungen sowie die Schulen einbezieht. 

Die Strategie kam schon bei den Vor­arbeiten zum Sprachenbericht zum Einsatz: Möglichst viele Akteure sollten sich zu den Plänen äußern, die Ausarbeitung auf viele Schultern verteilt werden. Ein Expertenteam, mit dem Generalinspektor für den Bereich Fremdsprachen in Frankreich Francis Goullier und die Sprachwissen­schaftlerin Sabine Ehrhardt von der Uni Luxemburg, stand den Planern beratend zur Seite; für die internen Arbeitsgruppen ernannte die Ministerin je eine/n Verantwortliche/r, der oder die dann ihrerseits Vertreter der nationalen Programmkommissionen, Inspektoren, Schulkoordinatoren und Lehrer zum Mitmachen einlud. Theorie und Praxis sollte so verzahnt und Kritikern der Wind aus den Segeln genommen werden: Niemand soll behaupten können, die Inhalte des Reformpakets seien vom Ministerium diktiert; die Teilnahme an den Arbeitsgruppen ist freiwillig.

Die Zwischenergebnisse werden alle zwei Wochen einer Steuerungsgruppe vorgestellt und dort diskutiert. Bei strittigen Fragen hat das hochrangig besetzte Komitee das letzte Wort; neben der Ministerin sind hohe Beamte, wie Siggy Koenig oder Script-Direktor Michel Lanners, an Bord. Ein Team von Unternehmensberatern wacht zudem darüber, dass sich alle an die fünf Ws der Projektplanung halten: Warum die Maßnahme? Was sind die Ziele? Wer übernimmt was? Wie vorgehen und wann? Mit Hilfe eines Masterplans zu arbeiten, war manchen, traditionell eher in ihrer Ecke arbeitenden Beamten ungewohnt. „Wir haben da Nachholbedarf“, gibt Kafaï zu.

So viel Reflexion ist ungewöhnlich. Luxemburgs streng hierarchische Verwaltungen tun sich eher schwer mit Kritik von außen, daran hat auch der Ombudsmann nicht viel geändert. Es war daher ein kluger Schachzug der Ministerin, mit Kafaï einem frischen Gesicht die Koordination übertragen zu ha­ben. Die Statistikerin und Bildungswissenschaftlerin ar­beitet seit drei Jahren in der Rue Al­dringen und gilt als unbeschriebenes Blatt, meint, unparteiisch. Das hilft, wenn es darum geht, unterschiedliche Meinungen zusammen­zuführen. Der ganzheitliche Ansatz zeigt erste Früchte, die für Außenstehende jedoch nicht sofort erkennbar sind. Wie kleine Zahnrädchen in einem großen Getriebe greift ein Element ins andere, die ersten haben nun Generalprobe: Dieses Jahr werden alle Siebtklässler im Land, statt reines Fachwissen zu pauken, Kompetenzen erwerben und anwenden lernen. Neben dem Schriftlichen werden nun systematisch Lese- und Hörverständnis sowie mündlicher Ausdruck geübt und bewertet. Ein Zusatzzeugnis, Complément au bulletin, informiert über den individuellen Lernstand ei­nes Schülers. Nachdem 13 Schulen zu­­nächst ein Vorläufermodell getestet hatten, soll nun eine entschlackte Version an allen Schulen zum Ein­satz kommen. Die Ergänzung zum Zeugnis wird Eltern ge­nauer Auskunft geben darüber, was ihre Kinder in den Kernfächern, also Sprachen und Mathe, können – und Lehrern helfen, das optimale Lern-„Menü“ für jeden Schüler zusammenzustellen. 

Für die Primärschule ist ein ähnliches Complément in Arbeit. Unter Leitung des Inspektors Guy Masselter hat das Ministerium ein Notenprojekt im Norden bewilligt. Dort arbeiten Lehrer seit einiger Zeit mit Evaluationsbögen neben der klassischen Zen­sur. So versucht die Ministerin, den Spagat in der heiklen Notenfrage hinzubekommen: Im Sprachenaktionsplan hatte sie versprochen, das 60-Punktesystem nicht anzurühren, die Compléments sind dennoch eine vorsichtige Öffnung in Richtung einer differenzierteren Benotung. Mit einer Einschränkung: Damit weniger Schüler aufgrund mieser Sprachnoten durchfallen, müssten Kompetenzen wie das Leseverständnis oder die Kommunikation in Zukunft mitzählen. Zumindest im Sekundarunterricht haben sich jedoch die Traditionalisten durchgesetzt: Das Schriftliche, über das viele Schüler stolpern, bleibt mit 65 Prozent die vermeintlich wertvollste Kompetenz – und damit ein unheilvoller Selektionsmechanismus in Kraft. Die Ministerin konnte und wollte sich nicht gegen die Gewerkschaften durchsetzen, ihr war ein breiter Kompromiss wichtiger: Sie freue sich, dass nun auch Lehrer an Bord seien, die zuvor zu den Bremsern der Sprachenreform zählten, so Delvaux-Stehres.

Doch die gute Stimmung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch etliche Ungereimtheiten gibt. Und da­bei geht es nicht um Kinkerlitzchen, sondern um Gretchenfragen: Wie können Schüler mehrsprachig lernen, ohne über zu hohe Anforderungen in Französisch oder Deutsch zu stolpern? Wie den unterschiedlichen Sprachhintergründen Rechnung tragen? An der Säule des Luxemburger Schulsystems, die im Sprachengesetz von 1984 gestärkte Dreisprachigkeit, will die Regierung um keinen Preis rütteln; auch nicht an der Tradition, jede Sprache stets für sich zu unterrichten. Dabei weiß die Ministerin wohl, dass die gängige Praxis, alle Kinder auf Deutsch zu alphabetisieren, dem erklärten Ziel gleicher Bildungs­chancen zuwider läuft und ihr Verständnis von Mehrsprachigkeit bei Sprachwissenschaftlern höchst umstritten ist.

Diese melden sich neuerdings verstärkt zu Wort – und könnten als sicher geglaubte Gewissheiten noch arg ins Wanken bringen. Dessen ungeachtet preist der bildungspolitische Mainstream von ADR bis Déi Gréng die „Brückenfunktion“ der „Integrationssprache Luxembur­gisch“, obwohl niemand genau weiß, welche luxemburgischen Wörter portugiesische, kapverdische und andere Einwandererkids kennen müssen, um bei der Alphabetisierung in Deutsch nicht ins Hintertreffen zu geraten. Um ohnehin überforderte Schüler nicht zusätzlich zu belasten, hat sich die Ministerin stets dagegen gewehrt, neben deutschen und französischen auch noch luxemburgische Vokabeln pauken zu lassen. Die Aktionen im Sprachenplan zum Thema Erstsprache sind jedenfalls rot markiert. Rot steht für: noch nicht in Arbeit.

Die Herkulesaufgabe wird aber sein, die Reformen in die Schulen zu tragen. Die Ministerin hat sich zwar, wie keine andere vor ihr, bemüht, Lehrer und Schulen von Anfang an in ihre Pläne einzubinden. Aber damit Lehrzyklen, Kompetenzen und neue Bewertungsmethoden Einzug in den Unterricht finden, braucht es fähige Lehrer, die wissen, was Differenzierung ist und wie man sie praktiziert. Schon warnen Stimmen, die neuen Anforderungen an die Lehrer seien viel zu hoch und nicht zu schaffen. Hilfe suchen sich einige bei externen Beratungsfirmen (S. 23); an­dere schieben die Neuerungen lieber auf die lange Bank.

Bei den Grundschulen setzt das Ministerium auf ausgewählte Pionier-Schulen, die ab dieser Rentrée Kompetenzen, Zyklen und Teamarbeit freiwillig testen. Das Ministerium erhofft sich Rückschlüsse für die richtige Jus­tierung der unterscheidlichen Kompetenzniveaus. Für die Sekundarschulen arbeiten Arbeitsgruppen auf Hochtouren daran, für die jeweiligen Jahrgänge, Filières und Schulzweige Kompetenzen zu bestimmen. Eine Heidenarbeit, denn auch bei diesen Mindeststandards werden Praxistests erst zeigen müssen, ob sie überhaupt realistisch sind. Zweifel daran äußert nicht zuletzt die Ministerin selbst. Den Lehrern, die in unzähligen Stunden und zähen Diskussionen die Standards ent­wickeln, kann man das aber kaum ankreiden: Viele sind selbst Newcomer in Sachen kompetenzorientierter Unterricht. 

Mindestens so kniffelig wird es für die Lehrer sein, den Standards Leben einzuhauchen. Mit den Proci-Schulen (projet pilote cycle inférieur) und dem Neie Lycée gibt es zwar erste Erfahrungen mit kompetenzorientiertem Unterricht. Aber auch dort ist nicht alles Gold, was glänzt: Vor allem mit der Binnendifferenzierung im Klassensaal tun sich viele Lehrer schwer; nicht wenige trennen auch weiterhin schwächere Schülergruppen von leistungsstärkeren, in der Hoffnung, so besser unterrichten zu können. Jetzt sollen „Expertenpools“ bei der Umstellung helfen: Lehrer werden in speziellen Fortbildungen auf freiwilliger Basis geschult, um ihr Können dann an andere Kollegen und Schulen weiterzugeben.„Wir sind auf gutem Wege“, meint Amina Kafaï zuversichtlich, wohl wissend, dass es noch Jahre dauern wird, bis alle Maßnahmen des Aktionsplans auf Grün – für erledigt – stehen und die Reform erste Ergebnisse zeigt. Die Ministerin muss trotzdem auf die Tube drücken, denn neun Monate bis zum Ende der Legislaturperiode sind lächerlich wenig, gemessen an den Riesenaufgaben, die noch warten. Immerhin sind die großen Linien gesetzt. Das kann ihr niemand mehr nehmen.

Ines Kurschat
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