Beim Thema Kleiderordnung prallen die Generationen in den Sekundarschulen aufeinander. Eine Bestandsaufnahme rund um Crop-Tops, Jogginghosen und Selbstbestimmung

Korrekt

In manchen Schulen sind Jogginghosen per Kleiderordnung verboten
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 17.11.2023

Reminder Wie sich die Schülerschaft kleidet, ist offensichtlich nicht nur ein Sommerthema. Kürzlich beschloss der Direktor des städtischen Lycée classique Michel Rodange, Jean-Claude Hemmer, eine Erinnerung in Form eines Briefes an alle Eltern schicken zu lassen. Ihm zu entnehmen war folgendes: „Maintenant que les cours ont repris et que l’automne a commencé, il y a lieu de constater qu’un certain nombre d’élèves se présentent au lycée avec une tenue que je qualifierais d’inappropriée.“ Er erinnert die Familien daran, dass die Kleidung ihrer Kinder „den Körper und die Unterwäsche“ bedecken sollen; dass Sportkleidung lediglich für den Sportunterricht geeignet ist – und dass auf T-Shirts bitte keine „verletzenden“ Bilder oder Mottos draufstehen dürfen. Wenn auf wiederholte mündliche Verwarnungen nicht reagiert würde, müssten die Eltern dieser „kleinen Minderheit von Schülern“ ihren Nachwuchs abholen und ihnen „vernünftige“ Kleidung anziehen.

Was Jugendliche im Unterricht tragen können oder müssen, ist ein umstrittenes Sujet, das immer wieder aufkommt. Es geht um Autorität, das Recht auf Selbstbestimmung, Transgression, um Normen, und um gegenseitigen Respekt und die Institution Schule. Dabei hat jede Schule erstmal das Recht, gemeinsam mit der Schulgemeinschaft einen internen Regelkodex aufzustellen, wie sich die Schülerschaft im Unterricht zu kleiden hat. Interessant ist, wie präzise er je nach Institution ausfällt. Im Michel Rodange etwa wurde die generelle Vorgabe des Schulgesetzes aus dem Jahr 2009, es müsse sich um eine „korrekte“ Kleidung handeln, erweitert und beinhaltet nun genaue Vorgaben: Die Schultern, der Bauchnabel, der Rücken und der Ausschnitt sind bedeckt zu halten, Röcke und Shorts müssen mindestens die Hälfte der Oberschenkel verbergen. Der „Schlabberlook“ einer Jogginghose ist nicht zugelassen.

Am frühen Dienstagnachmittag sitzen Schüler im Foyer des Michel Rodange. Yara, Leena, David, Lea und Nathan gucken auf ihre Handys und albern herum, weil ihre Doppelstunde Deutsch ausgefallen ist. Sie sind auf Septième und demnach erst seit knapp zwei Monaten in der Schule. David trägt ein türkises Puma-Joggingensemble, die anderen Jeans. Fast alle haben Sneakers an den Füßen und halten Steppjacken von Marken wie North Face in der Hand. Ihre Klassenlehrerin habe ihnen die neuen Regelen vorgelesen, erzählen sie. Nathan, 12 Jahre alt, Zahnspange und leicht gerötete Wangen, findet das Jogginghose-Verbot blöd. „Wir müssen uns den ganzen Tag anstrengen, dann können wir es auch ein wenig gemütlich haben.“ Leena, Hoop-Ohrringe und Pferdeschwanz, pflichtet ihm bei, mit Jeans auf den Stühlen zu sitzen sei anstrengender. Sie hätten keine Schuluniform, aber nun dann doch irgendwie. Lea trägt Dr. Martens-Stiefel und ist eher zurückhaltend. Sie findet, dass Jogginghosen wie Pyjamas aussehen. Leena steht auf und zeigt Lea auf dem Smartphone, dass das ganz offensichtlich gar nicht der Fall ist.

Hey, teacher An einem Tisch weiter oben im Foyer bereiten sich eine Handvoll Primaner auf ihre mündliche Prüfung vor. Sie sind vor allem in schwarz, weiß und grau gekleidet. Lena stellt fest, dass viele Lehrer etwas gegen Jogginghosen haben. Sie trage keine – ihre Mutter lehne diese Art von Kleidung als Schulkleidung ab und würde sie so nicht zum Unterricht lassen – aber es störe sie bei anderen nicht. Dana, die neben ihr sitzt, tut sich mit der Regelung schwer. „Wir sind hier noch nicht beim Arbeitgeber, da kann man etwas nachsichtiger sein. Was das schulterfrei angeht, sind es im Sommer hier gefühlte 50 Grad!“ Lena sagt, die Verbote richteten sich disproportional an Mädchen, denn vor einigen Jahren hätte man den Jungs lediglich verboten, in Flipflops zu kommen. Trotzdem gebe es durchaus Mädchen auf den unteren Klassen, die ihre Freiheit zu sehr ausreizten und in BH-artigen Tops und völlig bauchfrei in die Schule gekommen seien. Dass alle wegen ein paar Ausnahmen bestraft werden würden, sei nicht besonders fair. „Was mich stört ist die Art, es zu rechtfertigen: Wenn Lehrer sagen, sie könnten sich wegen weiblicher Outfits nicht konzentrieren. Wenn die Erklärung lautet, wir sollen alle respektabel aussehen, ist das in Ordnung.“ Die beiden Jungs am Tisch erklären, die Jogginghose wegen ihrer mündlichen Prüfung heute gegen eine normale getauscht zu haben. Als es um viertel nach zwei zum Unterrichtsende klingelt, strömen alle aus dem Gebäude – einige von ihnen in Jogginghose. Auffällig ist, wie ähnlich sie sich alle anziehen. Subkulturen wie Goths oder Hippies sieht man keine mehr. Die Streetwear ist zum Mainstream geworden.

Im Gespräch mit dem Land erklärt der Schuldirektor Jean-Claude Hemmer, Corona habe einige Spuren beim Kleiderstil hinterlassen. Man habe erst beschlossen, die Schüler nach der Pandemie in Ruhe zu lassen, habe dann festgestellt, dass es immer wieder Fälle gab, wo Jugendliche ausgesehen hätten „als hätten sie sich morgens nach dem Aufstehen nicht umgezogen“. Der „Rodange“ zählt 1 500 Schüler/innen, es handle sich um eine Minderheit von circa 50 Jugendlichen, und man unterscheide durchaus zwischen Schlabberjogging und anderen Arten von Trainingsanzügen. Denn natürlich gehört auch das zur Debatte: Jogginghosen gibt es mittlerweile selbst bei Dolce & Gabbana, für 900 Euro. Die Schultern bedeckt zu halten scheint sich für Hemmer vor allem auf Bandeau-Tops zu beziehen, bei denen die Schultern völlig frei sind. Dass sich das disproportional gegen Mädchen wende, lehnt er mit dem Einwand ab, Jungs dürften auch nicht bauchfrei oder im „Marcel“ zum Unterricht kommen. Mit dem Schülerkomitee hat sich keine gemeinsame Einigung finden lassen – und eine Linie „braucht das Haus nunmal“, sagt Jean-Claude Hemmer. Aus Kleidungsgründen sei noch niemand sanktioniert geworden.

Die Körper der anderen Sekundarschulen haben mit pubertierenden und mit-sich-selbst-experimentierenden Individuen zu tun, die sich entfalten wollen. Zu stark autoritäres Auftreten bewirkt bei dieser Bevölkerungssparte bekanntlich meist das Gegenteil des gewünschten Verhaltens. Das Lycée des Arts et Métiers, das eine andere sozioökonomische Schicht bedient, kommt auf den ersten Blick mit der strengsten Kleiderordnung daher. Hier wird auf der Homepage nochmal drauf hingewiesen, dass die Kleiderordnung „die Dezenz einer schulischen Institution“ reflektieren solle; dass Kleidung sauber sein soll und nicht „exzessiv zerrissen oder ausgefranst“; und dass unter Minishorts oder Miniröcke eine Leggings gehört. Fabrice Roth, Direktor des LTAM, erklärt im Gespräch, man überarbeite diesen Kodex gerade. Bei Trainingsanzügen müsse man sich die Frage stellen: „Warum noch wie Don Quijote gegen etwas vorgehen, das gesellschaftstauglich geworden ist?“ Die Schule habe ihre Philosophie geändert und würde versuchen, die Schüler dazu zu kriegen, Verantwortung zu übernehmen, und zu verstehen, dass sie beim Vorstellungsgespräch nicht egalwie erscheinen können. Eine Coaching-Stunde auf den unteren Klassen bietet nun den Schülern die Möglichkeit, sich auch über solche Themen auszutauschen. Roth habe festgestellt, die besten Resultate erziele man, wenn ein „Peer“ seinem Mitschüler Bedenken über ein Outfit ausdrückt.

Auch in den Nachbarländern wird debattiert. Im föderalen Deutschland fordert der Bundeselternrat mittlerweile eine einheitliche Regelung, was die Kleiderordnung für Schulen angeht – um „verlotterter“ oder „freizügiger“ Kleidung den Garaus zu machen. In einigen Schulen in Nordrhein-Westfalen wurden Schüler vom Unterricht ausgeschlossen, weil sie Jogginghose trugen. Im laizistischen Frankreich ist die Diskussion ebenfalls schon mehrmals aufgeflammt: Dort geht es wahlweise um die Abaya, dann um das Crop Top. 2020 hatte der damalige Bildungsminister Jean-Michel Blanquer auf France Info erklärt, die Kinder sollen „de facon république“ gekleidet in die Schule kommen. Vor knapp zwei Monaten sprach sich Präsident Emmanuel Macron zwar nicht für eine Uniform aus, erklärte jedoch, man könne den Schülern sagen, sie sollen eine tenue unique samt Jeans, T-Shirt und Veste zum Unterricht anziehen.

Im LTB gilt offiziell, Jogginghosen seien dem Sportunterricht vorenthalten, im LYMA in Esch/Alzette gehen Leggings in der Theorie nicht als Hose durch. Im Fieldgen darf die Kleidung nicht „provokant“, Tättowierungen und Piercings müssen „diskret“ sein; trägt eine Schülerin einen Schleier, dann maximal auf Schulterlänge und er darf keinen Teil des Gesichts bedecken. Die meisten Lyzeen untersagen eine Kopfbedeckung im Saal, außer es handelt sich um ein Zeichen religiöser Angehörigkeit. Einige erklären, auf T-Shirts dürften keine rassistischen, sexistischen, aggressiven oder gewalttätige Slogans stehen, Drogen, Tabak und Alkohol dürften nicht verherrlicht werden. Im LCE wird daran erinnert, dass auch Haarschnitt und Schminke „korrekt und einer Schule angemessen“ sein müssen. Der Lycée Vauban ist ähnlich explizit was die Bedeckung des Körpers angeht und untersagt eine tenue vestimentaire „type vacances“ ebenso wie Kleidung, die religiöse Angehörigkeit signalisiert. Die Sainte-Sophie toleriert hingegen keine „exzentrische“ Kleidung, was auch immer das in der Praxis bedeuten mag. Sind das Probleme, die sich im mehr urbanen Raum stellen? Jeff Kohnen leitet den 2008 eröffneten Atert Lycée in Redingen seit vier Jahren. Er hat tatsächlich den Eindruck, dass es bei ihnen weniger ein Thema ist als in der Hauptstadt und im Süden des Landes.

R.e.s.p.e.c.t Ähnlich wie das Lycée Ermesinde hat sich das Lycée Aline Mayrisch in seiner Schulordnung auf das Wort „korrekt“ beschränkt. Judith Reicherzer, Kommunikationsbeauftragte des „Alima“, erklärt, in Ausnahmefällen, etwa wenn jemand einen extremen Ausschnitt trage oder eine Provokation auf einem T-Shirt stehe, stünde eine Kiste mit Pullovern bereit, die die Jugendlichen sich überziehen sollen. Die Schüler diskutierten überdies eifrig untereinander über das Thema. „Der Respekt, den wir hier leben, muss immer wieder neu verhandelt und erarbeitet werden.“ Sie sieht den Schwerpunkt jedoch eher in der Beziehung mit den Schülern und in der pädagogische Rolle des Lehrpersonals als in rigiden Regelungen – und sieht die Schule auch als „Schutzraum“ für Jugendliche, in dem sie sich ausprobieren können; natürlich ohne andere zu verletzen. Tatsächlich bleibt die Frage, inwiefern sich die Regeln wirklich durchsetzen lassen, vor allem wenn man sich Schüler anschaut, die aus den genannten Schulen strömen und von denen einige dem Dresscode nicht entsprechen. Und es stellt sich auch die Frage nach der Willkürlichkeit, sowohl bei den präzise formulierten als auch den vage gehaltenen Regelungen. Wirklich extreme Positionierungen finden sich bei den Befragten nicht, eher Appelle an den gesunden Menschenverstand.

Karl der Große war im Jahr 808 der Erste, der den verschiedenen sozialen Ständen vorgab, wieviel sie für die eigene Bekleidung ausgeben dürfen und regelte somit, wie Menschen ihre soziale Herkunft nach außen signalisierten. Kleiderordnungen waren bis ins 19. Jahrhundert gängig. Bis ins 13. Jahrhundert hatten männliche und weibliche Kleidung den gleichen Grundschnitt, erst dann inspirierte die weibliche Taille zu Geschlechterunterschieden in den Kleidungsstilen. Den Körper der Frau zu bändigen und zu kontrollieren, wie er sich in der Öffentlichkeit präsentiert und was von ihm entblößt wird, hat seitdem Tradition.

Vor drei Jahren war es im LCD in Diekirch zu einem Eklat wegen der Kleiderordnung gekommen, die als sexistisch eingestuft worden war und „zur Sexualisierung des weiblichen Körpers führe“. Sie ähnelt jener des Michel Rodange und war gemeinsam mit dem Schülerkomitee erarbeitet worden. Im Nachgang war eine krude Karikatur zustande gekommen, die den Sexismus der Schule anzuprangern versuchte. Die Schülerin teilte die Zeichnung auf Social Media, was zu ihrer zeitweiligen Suspendierung führte. Das war die bisher einzige disziplinarische Aktion, die eine Kleiderordnung – indirekt – in den letzten Jahren in Luxemburg zur Folge hatte. Denn, so teilt das Bildungsministerium mit: Niemand kann wegen eines Verstoßes gegen die Kleiderordnung von der Schule verwiesen werden.

Sarah Pepin
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