Krankenkassenfinanzen

Hoffentlich Frontalier-versichert

d'Lëtzebuerger Land vom 15.05.2003

Sie war eine gezielte Indiskretion gewesen - jene Pressemitteilung, in der die Handwerkerföderation vergangene Woche auf das anhaltende Defizit beim Arbeiterkrankengeld hinwies. Alljährlich übermittelt die Krankenkassenunion UCM, ehe sie im Juli öffentlich die Bilanz des letzten Jahres zieht, die meisten Eckdaten vorab an die Sozialpartner und das Sozialministerium. Inklusive Prognosen für das laufende Jahr. Demnach rechnet die UCM beim Arbeiterkrankengeld nicht nur für 2002 mit einem Defizit von 30 Millionen Euro, bis Ende dieses Jahres könnte es auf über 52 Millionen anwachsen.

An sich ist es nicht neu, dass die Ausgaben für das Krankengeld der Arbeiter schneller wachsen als deren beitragspflichtige Lohnmasse. Schon in ihrer Jahresbilanz 2001 hatte die UCM festgehalten, dass diese Ausgaben zwischen 1995 und 2001 um 55 Prozent zugenommen hatten, die beitragspflichtige Lohnmasse dagegen nur um knapp 37 Prozent. 1994 hatten die Ausgaben rund 70 Millionen Euro betragen. Ende 2002 werden es voraussichtlich 136,5 Millionen gewesen sein; 10,5 Millionen mehr, als im Budget veranschlagt. Und für 2003 wird mit über 148 Millionen gerechnet. Was dieses Wachstum zusätzlich so bedenklich macht, ist der Umstand, dass es in den letzten Jahren an Fahrt gewann. Allein 2001 betrug die Steigerungsrate zehn Prozent, in diesem Jahr könnte sich der Zuwachs auf 8,5 Prozent belaufen.

Die Gründe dafür sind momentan noch weitgehend unklar. Eine erste Analyse der UCM vor vier Jahren hatte viele neue Fragen aufgeworfen, die jetzt untersucht werden und worauf die Antworten im Juli vorliegen sollen.  Von Einfluss ist mit Sicherheit die Zuerkennungspraxis der Invalidität, wie sie von 1996 bis September letzten Jahres galt: Nach einem 1996 ergangenen Gerichtsurteil wurde die Invalidität restriktiver gehandhabt, und ehe der definitve Bescheid darüber er-ging, hatten mehr Antragsteller als zuvor bis zu 52 Monate lang im Krankengeld gehalten werden müssen. Das Anfang Oktober 2002 in Kraft getretene neue Gesetz über die Arbeitsunfähigkeit, das unter anderem eine Weiterbeschäftigung regeln soll, möge "ein für allemal" das "bislang als chronisch bezeichnete" Defizit beim Arbeiterkrankengeld auffangen, hoffte die Regierung. Zumindest derzeit ist aber noch nicht abzusehen, inwiefern das gelingt.

Nicht unverständlich ist es, dass vor dem Hintergrund der schwierigeren Wirtschaftslage der Zuwachs der Krankschreibungen insbesondere das Patronat interessiert und die gezielte Indiskretion der Handwerkerföderation eine der gesamten Arbeitgeberseite war. Nicht nur, weil Krankschreibungen Mitarbeiterausfall bedeuten. Noch belaufen sich die Beiträge zur Arbeiterkrankenversicherung auf 4,7 Prozent. Zum Ausgleich der Deckungslücke hätten es laut UCM im vergangenen Jahr 5,32 Prozent gewesen sein müssen, in diesem Jahr 5,42 Prozent. Zuwächse, die, sollten sie beschlossen werden, sich in den Betrieben entsprechend akkumulieren. Schon im letzten Jahr hatte Sozialminister Carlo Wagner dem UCM-Verwaltungsrat eine Erhöhung der Beiträge nahe gelegt, was jedoch am Widerstand von Patronat und Gewerkschaften scheiterte. Jetzt spricht Carlo Wagner erneut von einer Erhöhung, doch als die Frage bei der letzten Tripartite-Sitzung Anfang des Monats auf den Tisch kam, versicherte Premier Jean-Claude Juncker, an den Beiträgen werde nicht gerüttelt.

Vor dieser Inkohärenz aber besteht ein grundlegendes Strukturproblem der Krankenversicherung, und es betrifft längst nicht nur das Defizit beim Arbeiterkrankengeld. Selbst wenn dieses bis zum Jahresende auf die Rekordhöhe von 52 Millionen Euro ansteigen sollte, würde sich daraus noch nicht ein so spektakuläres Gesamtdefizit der Krankenkassen ergeben, wie es 1999 in Höhe von mehr als zwei Milliarden Franken bestand. Die Ausgaben für das Krankengeld der Angestellten wachsen ebenfalls stärker als die Einnahmen, sind aber in der Masse rund zwölf Mal kleiner als die Aufwendungen für Arbeiter, weil bei Angestellten die Lohnfortzahlung durch die Kassen erst ab dem vierten Krankheitsmonat einsetzt und nicht schon ab dem ersten Krankheitstag. Bilanzmäßig viel günstiger haben sich dagegen die Ausgaben für Sachleistungen - für Arztkonsultationen oder Medikamentenerstattung zum Beispiel - entwickelt. Weil seit dem Jahr 2000 der Staat zu 37 Prozent für sie aufkommt, konnte die UCM bedeutende Einsparungen realisieren, rechnet für 2002 mit einem Überschuss von 88,8 Millionen Euro. Selbst mit dem Defizit beim Arbeiterkrankengeld von 30 Millionen im Jahr 2002 käme die UCM unterm Strich noch auf ein Plus von 62,3 Millionen; für 2003 könnte sich der Überschuss bei den Sachleistungen zwar auf 85 Millionen Euro verkleinern, aber selbst wenn das Minus beim Arbeiterkrankengeld auf 52 Millionen anstiege, blieben noch 35,2 Millionen auf der Haben-Seite.

Soweit die Prognosen, doch sie haben einen Pferdefuß: Die Luxemburger Krankenversicherung lebt wesentlich von Migranten und Grenzgängern. 2001 etwa wuchs die krankenversicherte Bevölkerung mit Wohnsitz im Großherzogtum um 1,4 Prozent, nahm jedoch 14,1 Prozent mehr Sachleistungen in Anspruch. Und das nicht, weil die Bevölkerung wesentlich altern würde: Seit 1993 sinkt der Anteil der 60- bis 79-jährigen und der über 80-jährigen Versicherten kontinuierlich, während der Zuzug von 20- bis 35-Jährigen viel höher ist. Hinzu kam wegen des wirtschaftlichen Booms in den Jahren 2000 und 2001 ein Zuwachs beitragspflichtiger Grenzgängern um 11,8 Prozent bzw. 11,4 Prozent, und noch im letzten Jahr betrug er 5,8 Prozent. Wenn zwischen 1995 und 2001 die Versicherten mit Wohnsitz in Luxemburg um 48 Prozent mehr medizinische Leistungen in Anspruch nahmen, ihre beitragspflichtige Lohnmasse aber nur um 35 Prozent wuchs, war das Verhältnis bei den Grenzgängern genau umgekehrt: plus 67,1 Prozent bei der Inanspruchnahme von Leistungen, plus 108,8 Prozent in der Lohnmasse. Zwei weitere Umstände wirken sich günstig für das Luxemburger System aus. Zwar kommen die hiesigen Kas-sen für Leistungen auf, die Grenzgänger in ihrem Wohnsitzland in Anspruch nehmen, diese sind aber in der Regel preiswerter als im Hochlohnland Luxemburg. Und: Laut EU-Recht unterliegen Grenzgänger nach ihrer Pensionierung der Krankenversicherung des Heimatlandes, sobald sie auch nur eine Teilrente von dort beziehen. In anderen Worten: Nur ein Grenzgänger, der sein gesamtes Berufsleben in Luxemburg absolviert hat, schlägt für die hiesigen Kassen zu Buche, wenn er ein Alter erreicht, in dem er mehr medizinische Leistungen konsumiert. Im Vergleich zum Wachstum der berufstätigen und somit beitragspflichtigen Grenzgänger ist das der pensionierten bislang äußerst bescheiden und lag zwischen 1999 und 2001 nur zwischen ein und zwei Prozent.

Wie lange die hohe Beschäftigung von Grenzgängern das Luxemburger System vor dem Offenbarungseid bewahren kann, ist nicht sicher mangels verlässlicher Daten über einen Anstieg von deren Arbeitslosigkeit. In seinem Konjunkturbericht für das vierte Trimester 2002 konnte der Statec nur mit Schätzwerten über die Zahl arbeitslos Gewordener operieren, die das EU-Formular E 301 beantragten, um vorübergehend luxemburgisches Arbeitslosengeld beziehen zu können (siehe d'Land vom 14.02.2003).

Vor diesem unsicheren Hintergrund erhält auch die Kostenentwicklung bei den Sachleistungen politische Bedeutung. Hat doch abseits der regulären Tarifverhandlungen zwischen Sozialpartnern und der Ärztegewerkschaft AMMD Sozialminister Wagner mit Letzterer ein Separatabkommen geschlossen, das für einzelne Medizinersparten die Honorarmasse per Gesetz rückwirkend zum 1. Januar 2003 um durchschnittlich 6,7 Prozent erhöhen soll und die Honorare künftig an die Indexentwicklung bindet (siehe d'Land vom 21. Februar 2003). Um 17,7 Millionen Euro würden die Aufwendungen der Krankenkassen für Sachleistungen damit steigen, in die UCM-Schätzungen für 2003 sind sie schon eingerechnet. Treffen sie 2004 erneut zu, würden sie den kumulierten Überschuss von 35,2 Millionen Euro, mit dem die UCM für dieses Jahr noch rechnet, um 17,7 Millionen auf 17,5 Millionen verkleinern, und im Jahr 2005 von 17,5 Millionen auf - minus 0,2 Millionen. 

Wie damit umzugehen wäre, müsste theoretisch erst nach den Wahlen entschieden werden. Es dürfte kein Zufall sein, dass ein Gesamtdefizit erst 2005 droht. Doch: Diese Rechnung enthält weder die weitere Entwicklung beim Arbeiterkrankengeld, noch die derzeitigen Nachbesserungen, die die Regierung bei den Finanzierungsprojekten zum Ausbau der Klinikinfrastrukturen trifft, die automatisch mit einem 20-Prozent-Anteil auf die Krankenkas-sen umgelegt werden, noch weitere Anschaffungen von Großtechnik für die Spitäler, deren Funktionskosten die UCM zu 100 Prozent übernehmen muss und die ebenfalls auf die Sachleistungsbilanz drücken. Schwierige Gespäche in der Krankenkassen-Quadripartite dürften Carlo Wagner bevorstehen. Patronat und Gewerkschaften verlangten via Wirtschafts- und Sozialrat kürzlich eine noch höhere Staatsbeteiligung an der Ausgabendeckung. Was keine dauerhafte Lösung wäre, zumal in Zeiten knapper werdender Haushaltsmittel. Doch da Wagner sich mit seinen Zugeständnissen an die Ärzte über die Tarifautonomie hinwegsetzte, bietet er nun Angriffsfläche. Er solle doch selber die Verwaltung der Kassen übernehmen, meinte die Handwerkerföderation letzte Woche. Ein Witz ist das nicht: Laut Artikel 30 des Code des assurances sociales muss der Minister eine Entscheidung über eventuelle Beitragserhöhungen treffen, falls das finanzielle Gleichgewicht der Kassen bedroht sein sollte und die Generalversammlung der UCM darüber zu keinem Konsens gelangt. Da die Probleme für 2004 sich schon jetzt abzeichnen, könnte Carlo Wagner, falls es beim Widerstand des Patronats auch gegen mehr Beiträge zur Arbeiterkrankenversicherung bleibt und sich die Gewerkschaften dem anschließen wie im letzten Jahr, das Versprechen aus der Tripartite brechen müssen.

Gerade in Zeiten des heraufdämmernden Wahlkampfs könnte Premier Juncker das gelassen nehmen: Mag Carlo Wagner für eine Beitragserhöhung beim Arbeiterkrankengeld sein und hoffen, die Sachleistungen würden erst nach den Wahlen beitragsmäßig teurer, hat sein Parteikollege Henri Grethen sich erst vor einer Woche in seiner Rede zur Eröffnung der Frühjahrsmesse ausdrücklich gegen weitere Erhöhungen der Lohnnebenkosten gewandt. Wird die Auseinandersetzung um die Bedeutung der "Säule Wirtschaft" für die "nachhaltige Entwicklung" des Landes zu einer DP-internen zwischen dem Helden vom Rententisch und Monsieur Compétitivité, kann es der CSV nur recht sein. Vorausgesetzt, Luxemburg bleibt ausreichend Frontalier-versichert.

Peter Feist
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