Eric Schockmel

Zwischen den Stühlen

d'Lëtzebuerger Land vom 23.07.2009

Vor zehn Jahren saß ich neben Eric Schockmel in einem abgedunkelten Klassensaal des Lycée de Garçons in Limpertsberg und sah mir mit ihm die letzte halbe Stunde von Kubricks Space Odyssey an. Vom Flur aus hatten wir HALs monotones Wehklagen („I can feel it!“) gehört. Vermutlich fand draußen gerade irgendein Schulfest statt und die Klasse hatte den Raum nach der Pausenglocke verlassen ohne den Beamer abzuschalten. Wir kannten den Film gut. Unser Französischlehrer, den wir für allwissend hielten und zutiefst verehrten, hatte ihn mit unserer Klasse besprochen und uns Interpretationen schreiben lassen. Mit einer selbstverständlichen Überheblichkeit, wie sie vermutlich nur bei Sechzehnjährigen noch einigermaßen sympathisch wirkt, mühten wir uns an Ligeti ab und bedachten Chatschaturjan mit Geringschätzung. Wochenlang diskutierten wir über Daves Reise durch das kosmische Farbenspektrum, die seltsamen weißen Gemächer, das Rätsel aller Rätsel: den schwarzen Monolith. Dann das Finale: der monströse Fötus, der zu den dröhnenden Klängen von Strauss zwischen den Planeten schwebt.

Während ich damals noch dachte, Computer seien nicht viel mehr als Schreibmaschinen mit Steckern, machte Eric erste Experimente mit Photoshop. Ab wann er wusste, dass aus diesen noch reichlich hilflosen Gehversuchen einmal eine Berufsperspektive würde, kann er heute so genau nicht mehr sagen. Nach dem Abitur im Sommer 2001 studiert er ein Jahr lang Geschichte am Cours universitaire, doch das ist nur Vorlauf, eine Atempause, bevor es richtig losgeht. 

Ab 2002 macht er an der École de recherche graphique seinen Bachelor in grafischem Design und Videokunst, wechselt dann nach London an das renommierte Central Saint Martins College of Art and Design. Dort entwickelt er im Rahmen eines Master-Studiengangs das Projekt Syscapes, das er seit seinem Abschluss auf drei Kontinenten – in Tokio, Berlin, New York, Sao Pau­lo – bei verschiedenen Ausstellungen und Wettbewerben gezeigt hat. 2008 war die 22-minütige Animation Syscapes # elo in einer Multiscreen-Installation von Konstantin Grcic und Nitzan Cohen im Mudam zu sehen. 

Syscapes“ ist ein Kunstwort, das sich aus „system“ und dem Suffix „-scape“ – wie in „landscape“ – zusammensetzt. Aufbauend auf einem systemtheoretischen Ansatz (die Hausgötter Eric Schockmels heißen Jared Diamond und Giorgio Agamben), der den Zusammenhang zwischen menschlichen Gesellschaftsformen und natürlicher wie geschaffener Umwelt in den Mittelpunkt stellt, versteht sich das Projekt als Versuch, eine bildliche Sprache zu schaffen, mit der die Interak­tion von Gesellschaftssystemen untereinander und zu ihrer jeweiligen Umwelt dargestellt werden kann. Die Herausforderung besteht darin, die Möglichkeiten eines noch neuen Mediums so weit wie möglich auszunutzen, ohne einem oberflächlichen Ästhetizismus zu verfallen: Syscapes ist kein Zeichentrickfilm; die visuelle Sprache bleibt, bei aller Anschaulichkeit und unmittelbarer Verständlichkeit ihrer Symbole, höchst abstrakt. 

Syscapes # Interlude verfolgt die chronologische Entwicklung eines sozio-politischen Systems von den Anfängen einer frei im Raum schwebenden Ursprungsentität mit einer Kultur von Jägern und Sammlern, hin zu einer technokratischen und umweltfeindlichen Gesellschaft, in der soziale Konflikte ein unheilvolles Wettrüsten zwischen den Klassen provozieren. Die dreidimensionale Erfassung dieser komplexen dreidimensionalen Struktur wird mit einer Geräuschkulisse unterlegt, die die räumliche Symbolik ergänzt und bereichert. Ein Kollektiv beweglicher Holzkegel stellt etwa ein steinzeitliches Gesellschaftssystem dar. Eine Jagdszene sieht dann so aus: Die Holzkegel formieren sich zu einem Halbkreis mit nach innen gekehrten Spitzen und stoßen gemeinsam auf einen Punkt zu, während panisches Tiergeschrei erklingt. 

Die Entwicklung derartiger Gesellschaftssysteme könnte man in einem Vorhaben, das auf die Herstellung einer virtuellen Sprache ausgerichtet ist, völlig theoretisch und wertfrei gestalten; das ist eine Frage der Symbole, die man verwendet. Neutral oder distanzierend sind die Sequenzen der Syscapes jedoch nicht. Sie können es auch nicht sein. Das Credo: Kunst hat die Aufgabe, politische Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit zu erzeugen, auch wenn ein Kunstwerk die Welt nicht ändern kann. „Kunst und Design befinden sich immer in einem politischen und historischen Kontext,“ sagt Eric Schockmel. „Aus meiner Sicht definieren sich sogenannte ‚unpolitische’ Werke gerade dadurch, dass sie dringliche aktuelle Themen nicht ansprechen.“ Die oberste Machtinstanz der technisch fortgeschrittenen Gesellschaftsstruktur versieht er mit einem Zitat aus der amerikanischen Verfassung sowie amerikanischer Militärsymbolik, das aufbegehrende unterdrückte System mit Anspielungen an südamerikanische Guerillabewegungen. So sehr er sich auch gegen die Bezeichnung als „Idealist“ wehrt, so geht er mit dem Interlude doch auch über die konkreten historischen Bezüge hinaus: Der letzte Teil der Animation suggeriert unter dem Titel „Auto­poie­sis“ ein harmonisches Nebeneinander von Gesellschaftsstrukturen, die gelernt haben, Umwelt und Technik so zu verbinden, dass sich das System selbst erhält, statt sich selbst zu zerstören. Wie man von der technokratischen Struktur zu dieser Utopie gelangt, zeigt die Animation natürlich nicht – die Sequenzen wechseln abrupt; eine Art Filmschnitt, die mir irgendwie vertraut vorkommt ...

Wenn ich Eric frage, ob er ein Künstler sei, muss er lachen. So naiv ich die Frage stelle –, trivial ist sie nicht. Mit Syscapes setzt sich Eric Schockmel zwischen ziemlich viele Stühle. Spätestens dieses Projekt hat sein Selbstverständnis als grafischer Designer untergraben: Es ist eine philosophische Reflexion mit den Mitteln des computergesteuerten Designs, die in der Wahl und Gestaltung ihrer Bedeutungsträger zugleich ein hochsensibles und überaus eigenwilliges Gespür für das Poetische ihrer Metaphorik verrät. Die Präzision, mit der er Blattformen und die Farbe von Wasser­oberflächen, Turbinengeräusche und die Beschaffenheit technischer Infrastrukturen aussucht, sind deutliche Anzeichen der Faszination Eric Schockmels für den rein handwerklichen Aspekt seines Tuns. 

Das Interesse an der aus sich selbst heraus funktionierenden Simulation steht auch im Mittelpunkt seiner Arbeit für die Londoner Filiale von Watergun, eines Studios für audiovisuelles Design, das unter anderem Musikvideos produziert. Ein Ende seiner künstlerischen Tätigkeit bedeutet die Beschäftigung bei Watergun nicht. Mithilfe neuer Computerprogramme sollen weitere Sequenzen von Syscapes entstehen; auch reizt Eric die Idee, in Zukunft verstärkt mit filmischen Mitteln zu arbeiten. Wundert mich das?

http://ericschockmel.net

Elisabeth Schmit
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